Vor 11 Jahren hörte Jens Witzel, dass es jetzt einen durchgehenden Radweg entlang der Ruhr gibt. Ein paar Leute fühlten sich bestimmt motiviert, die 230 km mit dem Fahrrad zu fahren. Aber nur einer kam auf die Idee, die 230 km von Winterberg bis Duisburg laufen zu wollen. Und wenn schon, dann Nonstop! Er zog es durch und bereits ein Jahr später führte Jens die TorTour de Ruhr in den Rennkalender der Ultra-Marathon Szene ein.
Im Jahr 2008 waren es 8 Finisher auf den 230 km und 10 auf den 100 km von Hagen zur Mündung der Ruhr in den Rhein. Aber das Rennen sprach sich schnell bei den Läufern herum. Seither gibt alle zwei Jahre diese TorTour mit immer mehr Teilnehmern. 2010 erweitert um einen 100 Meiler von Arnsberg bis Duisburg waren es bereits 46 Finisher auf den drei Strecken, 2012 ging es auf 65 im Ziel, 2014 auf 79. Und 2016 ging es steil bergauf: 145 im Ziel bei mittlerweile 200 gemeldeten Starten. Die Startplätze sind so begehrt, dass der 100 km Lauf bereits am ersten Tag der Anmeldung ausgebucht war. Aber etwas Geduld und verweilen auf der Warteliste kann schon mal helfen. Ach ja, eines der vielen netten Details: Die 100 km haben einen offiziellen Beinamen = Bambinilauf! Es ist halt die kürzeste Distanz der TorTour de Ruhr.
Es ist von Anfang an ein Lauf von Läufern für Läufer. Es gibt nur ungefähr alle 25 km einen Verpflegungspunkt, also brauchst man eine eigene Crew, die einem da durch bringt und versorgt. Keine Crew = kein Startplatz! Zum ersten Mal musste ich bei einem Lauf in Deutschland ein Attest vorlegen! Kein Attest = kein Start. Jens meint es ernst mit den Regeln, und das ist gut so. Für die Nerven des Organisators ebenso wie für die Starter. Die Ausfallquoten sprechen eine deutliche Sprache. In diesem Jahr starten 106 Teilnehmer auf den 230 km, 59 finishen. Auf der Mitteldistanz kommen 39 der 54 gestarteten ins Ziel und auf dem Bambinilauf schlagen immerhin 74 der 81 Starter im Duisburg beim Rheinorange an.
Das Rheinorange ist ein monumentales Kunstwerk, welches 1992 in Duisburg genau dort aufgestellt wurde, wo die Ruhr in den Rhein mündet. 25 m hoch und 83 to. schwer ist es nicht zu übersehen. Der Künstler Lutz Fritsch wählte die Farbe RAL 2004, welche Reinorange heißt. Dies ist für heute unser aller Ziel: Für die 230er, die schon Samstag um 8 Uhr gestartet sind, für die 160er, die seit Samstagabend 18 Uhr unterwegs sind und jetzt für alle 100er, die um 4 Uhr in Hagen an den Start gehen. Mein erster Bambinilauf.
Im Strandbad am Hengsteysee und auf dem Parkplatz davor herrscht mitten in der Nacht wuseliges Treiben. Von den 85 zugelassenen Startern sind 81 da, jeder hat seine Crew dabei, Autos, Fahrräder - die Anspannung ist spürbar. Das Team um Mr. Racedirektor Jens und seiner Frau Ricarda ist im Dauerstress, vor 20 Stunden haben sie das Rennen in Winterberg gestartet, jetzt sind sie hier, um den dritten und letzten Start freizugeben. Jeder darf noch eine Haftungsausschluss-Erklärung unterzeichnen und bekommt dann seinen personalisierten Starterbeutel. Kurzer Check, Startnummer, Essensmarken, T-Shirt in L, Wright Socks mit TTdR Logo in 37-41…. o.k…..leider keine größeren mehr da.
Ich unterhalte mich kurz mit Rafael, er hält den Rekord aus 2016 mit 8:16:42. Auf meine Frage, ob er ihn brechen will grinst er breit und meint, dass es von Wetter her ja gut aussieht. Um 3:30 Uhr ist die Wettkampfbesprechung geplant, es wird 3:45 Uhr. Schnell ans Auto, umziehen und ab an den Start. Ich hab keine Zeit mehr, mich hinten einzureihen also geht es heute mal in der dritten Reihe los. Ich bleibe bei Alexander hängen, wir posen noch schnell für ein Foto und schon flüstert Jens, den Anwohnern zu Liebe ohne Startschuss, drei…. zwei….eins
Wir sind im Rennen, es ist stockduster! Viele sind mit Stirnlampen ausgerüstet, die ohne halten sich hinter den Erleuchteten auf, um irgendwie den Weg zu finden. Wir laufen zuerst etwa 1,5 km in die „falsche“ Richtung der Ruhr entgegen, wenden dann und es geht auf gleicher Strecke zurück Richtung Strandhaus. Dieser kleine Prolog ist notwendig, damit wir von hier aus auch die 100 erreichen. Aussage Jens: 97 auf der Uhr wäre blöd! Die erste Stunde tapsen wir mehr oder weniger durch die Dunkelheit, die Temperatur liegt bei 8 Grad und in der Dämmerung nimmt man die ersten Nebelschwaden an und über der Ruhr war. Die Freude ist riesig, wir laufen in den Tag hinein, dürfen den Fluss begleiten und erleben, wie er immer breiter wird. Es erheben sich Burgen aus dem Nebel, die ersten Vögel zwitschern, der Tag um uns herum erwacht. Ich laufe auf Uwe auf, wir begegnen und immer öfter und stellen wieder einmal fest, was für eine schöne Kamera wir doch haben, als wir beim selben Motiv stehen bleiben.
Die ersten 1o km an Herdecke vorbei bis Wetter vergehen wie im Flug, hier erwartet mich zum ersten Mal Tanja, meine Verpflegungs-Crew. Wir haben den Kofferraum voll gepackt mit allem, was ich brauchen könnte. Essen, Trinken, Naschen, Ersatz Trikot, Socken, Schuhe, Trailstöcke…. Wie sich rausstellt, war das meiste überflüssig. Aber zu wissen, dass alles da ist, beruhigt auf der Strecke ungemein. Wir haben über die komplette Strecke 14 Treffpunkte ausgemacht. Ach ja, Handy ist Pflichtausrüstung. Beim Start bekam jeder ein Armband mit der Notrufnummer mit dem Hinweis, sich unbedingt abzumelden, falls man aussteigt. Es gab schon mehrfach unnötige Suchaktionen, während der Aussteiger schon zu Hause im Bett lag. Des Weiteren habe ich den Track auf meiner Uhr, die Storys vom Verlaufen auf dem Ruhrtalweg kennt jeder, der sich mit der TTdR schon mal beschäftigt hat.
Es geht weiter Richtung Witten, hier ist der Ruhrtalweg unterbrochen durch die kleine Fähre Hardenstein, welche erst um 9 Uhr den Betrieb aufnimmt. Deshalb wechseln wir schon einige Kilometer vorher auf die „Kaiserroute“ und damit auch die Flussseite. Ich komme zu meinen zweiten mobilen Verpflegungspunkt und weiter geht’s.
Nach 25 km erwartet uns beim Zollhaus Herbede in Witten der erste unserer 4 offiziellen Futterplätze. Pflicht für jeden TorTouristen ist hier das Anmelden bei den Streckenposten, es werden Startnummer und Zeit notiert. In Sachen Verpflegung ist alles aufgefahren, was man sich nur wünschen kann. Ich bin schnell durch, da hinter der nächsten Kurve wieder meine persönliche Betreuung wartet.
Die Sonne kommt heraus und ich produziere meinen ersten Umweg. Kurz an der Uhr gespielt, plötzlich sind weder Läufer noch Schilder in Sicht. Also zurück. Glück gehabt, das waren nur 400 m. Es geht entlang dem Kemnader See, dieses Jahr erstmalig am Südufer entlang. Beim Überqueren der Ruhr gibt es oft zwei Möglichkeiten. Manche folgen dem Radweg und den entsprechenden Schildern, andere kennen die Treppen, über die man sich ein paar Meter spart. Ich bin nie alleine unterwegs, immer sind andere Läufer um mich rum. Ich hatte ein eher einsames Rennen erwartet. Immer wieder überholen wir Läufer mit Startnummern, die mit 160 oder 230 beginnen, daran sind die von den noch längeren Strecken sofort zu erkennen. Aufmunternde Worte sind selbstverständlich, bei vielen kommen sie dankbar an, manche sind jedoch in ihrer eigenen Welt versunken und werden nur noch von ihrer Radbegleitung da durchgezogen.
Nicht alle geplanten Verpflegungstreffpunkte sind mit dem Auto erreichbar, also stimmen wir vorher telefonisch ab, was ich brauche und möchte, und bekomme das dann im Rucksack geliefert. Ich laufe heute erstmalig mit Trinkblase im Rucksack und weiß endlich, warum ich sie mir einmal zugelegt habe. Heute ist es optimal. Am nächsten offiziellen VP von „Wat läuft“ treffen sich alle wieder, die auf den letzten Kilometern mal überholt haben oder überholt wurden. Ich entdecke Wassermelone und finde damit auch mein liebstes Essen am heutigen Tag. Bei den stetig steigenden Temperaturen sehr erfrischend!
Wir lassen Hattingen hinter uns, durch Bochum Steele geht es Richtung Essen zum Baldeneysee. „Löffelbisquit Matthias“ erzählt mir von seinen Comrades Teilnahmen. Solche Gespräche lassen wieder einige Kilometer dahin schmelzen. Unter der Kampmannbrücke erwartet uns an der bewährten Stelle des Essener Marathons die nächste Versorgungsstelle. Wassermelone ist noch erfrischender wenn man sie mit einem kühlen Radler runterspült. Ab hier gilt: Nur noch Marathon, es sind noch 42 km bis zum Rheinorange! Inzwischen ist High Noon, wie ich später höre, sollen wir 25 Grad haben, die Sonne brennt erbarmungslos und um den See herum gibt es nur wenig Schatten. Dafür sind die Naherholungs-Ausflügler inzwischen alle auf den Beinen, die Wege sind feiertagsbedingt voll.
Immer wieder wechseln Vera und ich die Positionen, sie läuft ihren ersten 100er und wird von drei Betreuern begleitet, die abwechselnd radeln oder laufen. Ich verhandele mit einem über den Verkauf seines Fahrrades. Er stimmt nur zu, wenn ich seinen Hintern mit übernehme…. Hm, ich glaub, ich lauf lieber weiter. Jetzt, wo ich drüber nachdenke sehe ich immer öfters, dass die Begleiter ihre Räder schieben. Denen tut der Allerwerteste weh, mir die Füße.
Marcel hat Lauf- und Radbegleitung dabei und ist ebenfalls auf dem Weg zu seinem ersten 100er. Er beginnt langsam zu leiden, aber seine Jungs bringen ihn erfolgreich da durch. Bei mir stehen nach 60 km genau 8 Stunden auf der Uhr, schneller als gedacht und damit zufrieden geht’s weiter. Über Essen Kettwig schlängelt sich die Ruhr Richtung Mülheim an der Ruhr. Einer meckert seine Crew an, laut Regularien ein Grund zur Disqualifikation! Aber es petzt ja keiner!
Unter der Mintarder Brücke bei Mühlheim kommt 23 km vor dem Ziel der letzte Verpflegungspunkt. Ich mache große Augen: Habt ihr schon mal Rosmarinkartoffeln während eines Laufs bekommen? Ich bestelle mein Steak medium, bekomme aber nur Wassermelone. Na ja, man kann nicht alles haben. Mehrfach höre ich heute, wie schön man die Landschaft findet. Soviel Grün erwartet man nicht bei einem Lauf durchs Ruhrgebiet. Abgesehen von einigen Städten, wo wir einfach durch müssen, laufen wir wirklich nur im Grünen. Ich vermisse allerdings Wald und damit etwas Schatten, wir werden erbarmungslos gebraten. Ortseingangsschild Oberhausen, es geht durch einen Park, in dem ein Brunnen plätschert: Kopf drunter, einfach herrlich! Ich komme mit Volker ins Gespräch. Er ist als Walker unterwegs. In dieser Kategorie sind 3 Starter schon um 0:00 in Hagen auf die 100 km gegangen. Er wird, ebenso wie Vera, vor mir im Ziel sein.
Ich verlaufe mich noch einmal. Bei der telefonischen Abstimmung des nächsten Treffpunkts mit meinem Versorgungsmobil bin ich unkonzentriert, plötzlich sind die Läufer vor mir nicht mehr zu sehen. Auch keine Schilder in Sicht, ich folge der Straße. Ich orientiere mich am Track auf meiner Uhr und sehe, dass ich auf einer Parallelstraße zur Ruhr bin. Also einen Kilometer gerade aus und dann sehe ich in einer Seitenstraße den Damm und darauf Läufer. Glück gehabt, aber ich ärgere mich. Ich begegne wieder Vera aus Dortmund und ihrem Team, fluche vor mich hin, weil ich jetzt wohl die geplanten sub 14:30 vergessen kann. Sie meinen aber, es könne noch reichen. Also alles noch einmal durchgerechnet und - sie haben Recht.
Ich habe keine Lust mehr zu laufen, kann allerdings noch mit einem strammen Schritt marschieren. Immer wieder schaue ich zur Uhr. Sieben Kilometer vor dem Ziel kommt der letzte Treffpunkt mit Tanja, ich zieh mir ein eiskaltes Radler aus der Kühlbox rein, verabschiede mich schnell und nehme noch ein zweites Radler mit auf den Weg. Die letzten Kilometer ziehen sich. Aber was hab ich erwartet, ist das nicht immer so? Keine 2 Kilometer mehr, wir queren die Ruhr auf dem riesigen Stauwerk und dann kommt der Augenblick: Das riesige Rheinorange kommt in Sicht. Jetzt wird jeder Schritt zum Genuss. Läufer, die bereits ihre Medaille tragen, kommen mir entgegen, jeder ist bester Laune, grinst vom rechten bis zum linken Ohr und jeder hat noch anerkennende Worte parat. Ein unglaubliches Glücksgefühl ist in mir.
Ich trabe gemächlich auf den Stahlgiganten zu, rechts und links stehen die Zuschauer, Läufer und Crew, Applaus. Jens ruft mir zu, am Rheinorange anzuschlagen. Ich lauf drauf zu, dreh mich um, reiße die Arme mit Radler in der einen Hand und der Kamera in der anderen hoch und lasse mich mit dem Rücken gegen den kühlen Stahl fallen. Kameras blitzen, Jens gibt mir meine Zielzeit und die Mega TTdR Medaille. Ich habe eine Hühnerpelle und die Welt steht still vor lauter Glück. Mit 14:28:29 hab ich mehr als einen Traum erfüllt!
Foto Session:
Mr. Racedirektor muss als erster ran, zur Einstimmung auf die TorTour möchte ich seinen Bericht von 2007 empfehlen der auch hier online ist. Gerd kommt kurz hinter mir rein, das nächste Opfer für Fotos ist gefunden. Ich falle Tanja in den Arm, kann mein Glücksgefühl gar nicht beschreiben. Wir genießen die Stimmung, für einen TorTouristen ein wahrhaft magischer Ort. Wir reißen uns los und beginnen langsam den Rückweg zum Auto. Jetzt kommen uns die ganzen Läufer entgegen, die kurz vorm Ziel sind. Vor wenigen Minuten war ich an ihrer Stelle. Also noch schnell ein paar Fotos und aufmunternde Worte, bevor wir den Weg Richtung Jugendherberge antreten.
Jens hat die komplette Jugendherberge im Landschaftspark Duisburg gemietet, die TorTouristen sind unter sich. Dusche, Abendessen und dann die Siegerehrung. Die kriege ich nicht mehr mit. Nach zwei Bier fallen mir die Augen zu. Rafael hat seine Zeit unterboten jetzt gilt es 8:15:42 zu schlagen, herzlichen Glückwunsch!
Die TorTour ist der Wahnsinn! Danke Jens & Ricarda! Danke Tanja! Danke an alle TorTouristen!
100 km Männer
1. Rafael Rodriguez Baena - 8:15:42
2. Rainer König - 8:42:00
3. Stephan Peters – 8:45:01
100 km Frauen
1. Annette Hausmann – 9:24:56
2. Kirsten Althoff – 9:39:13
2. Andrea Schüpbach - 10:55:50
160 km Männer
1. Jens Uwe Brack – 18:00:40
2. Victor Goncalves – 18:37:11
3. Eik Bergmann – 19:21:11
160 km Frauen
1. Christina Frey – 22:15:43
2. Claudia Vonau – 23:49:38
3. Claudia Kümper – 26:17:30
230 km Männer
1. Andre Blumberg – 24:14:56
2. Jens Werbonat – 26:13:32
3. Manuel Tuna – 26:34:06
230 km Frauen
1. Antje Müller – 28:48:27
2. Martina Prüfer – 28:57:44
3. Desiree Sauren – 29:31:18