Am Samstagmittag hole ich meine Startnummer ab. Danach verziehe ich mich in ein halbwegs bezahlbares Hotel, denn Start ist Sonntagmorgen um 04 Uhr - nicht unbedingt die angenehmste Zeit, um mit einem Ultratrail zu beginnen. Wer nicht im Ort übernachten will, der bekommt seine Startnummern auch zwischen 03 und 03:45 Uhr. Keinesfalls vergessen darf man aber, dass man für alle Läufe in Frankreich ein weniger als ein Jahr altes ärztliches Attest braucht. Ohne Attest keine Startnummer - in dem Punkt gibt es in Frankreich keinen Spielraum für Diskussionen.
Nach drei Tassen Kaffee bin ich in der späten Nacht halbwegs startbereit. Mit Musik von Vangelis werden wir in auf den Weg geschickt. Ich denke dabei daran, dass ich bei ähnlichen Klängen in wenigen Monaten beim UTMB in mein größtes Abenteuer starten will. Gänsehaut! Auf den ersten 100 Metern stehen Leute mit Fackeln am Streckenrand, ebenso an einigen anderen Stellen auf unserem kurzen Weg aus dem Ort hinaus. Schon bald steigen wir im Wald steil bergauf.
Der Tag beginnt für mich mit einer großen Enttäuschung. Da ich schon seit Monaten nicht mehr mit Stöcken gelaufen bin, jetzt aber als Vorbereitung für den UTMB endlich wieder anfangen muss, auch meine Arme und Schultern damit zu trainieren, und weil ich schon im Voraus wusste, dass sich für die TdR-Strecke Stöcke lohnen, trage ich sie wie viele andere Teilnehmer im Startblock noch zusammengesteckt. Doch als ich nun am Waldrand die Stöcke auseinander ziehen will, klemmen beide. Egal wie sehr ich mich bemühe, die Monate im Keller haben dem Material wohl geschadet. Nach langem, harten und mit immer mehr lauten Flüchen belegten Kampf gebe ich auf und hänge die Stöcke hinten an meinen Laufrucksack. Diese Aktion kostet so viel Zeit, dass selbst der letzte Läufer im Feld nun mindestens 200 m Vorsprung hat, was auf dieser steilen Strecke für mich schon einen kräftigen Rückstand bedeutet. So hatte ich mir diesen Tag nicht vorgestellt!
Durch viele unübersehbare Schildchen mit roten Richtungspfeilen ist die Strecke wie in den Vogesen üblich von Start bis zum Ziel außerordentlich gut markiert. Beim nächtlichen Streckenabschnitt leuchten uns schon aus großer Entfernung die Reflektoren an den Markierungen entgegen.
Schon bald nach dem Start erfüllt die Streckenführung meine großen Erwartungen. Wir zweigen von einem schmalen Weg ab und steigen nun mehr oder weniger weglos geradeaus einen brutal steilen Hang hinauf. Das treibt den Puls hoch! Jetzt könnte ich die Stöcke wirklich gut brauchen. Dieser Abschnitt ist eigentlich wie maßgeschneidert für mich. Solch einen Quatsch liebe ich. Doch meine Vorgänger kommen dank ihrer Stöcke leichter hinauf, so dass sich mein Rückstand vergrößert. Hey, ich will heute eigentlich nur einen sehr langen Trainingslauf machen und den TdR nicht als Kampf um Platzierungen hetzen! Doch egal, auf diesem ersten Offroad-Abschnitt ahne ich schon, dass sich die Fahrt nach Saint-Die und das frühe Aufstehen für mich gelohnt haben und die Veranstalter für mich eine Traumstrecke bastelten.
Bald erreiche ich den Roche Saint-Martin. Nach diesem Felsen sause ich auf einem Trail bergab. Steile Abstiege kann ich immer gut nutzen, um andere Läufer einzuholen, und auch hier gelingt es mir nun, den Rückstand zum Feld zu egalisieren.
Ganz unten am Talboden liegt eine dünne Nebeldecke über der Stadt. Durch die Straßenlaternen wird der Nebel von unten angestrahlt und scheint aus meiner Perspektive orange zu leuchten. Darüber scheinen die Sterne am Himmel. Eine wunderschöne Morgenstimmung!
Meine Aufholjagd führt nun bergauf, bergab, mal auf Trails, dazwischen ab und zu auf breiteren Wegen. Manchmal überhole ich zwei Läufer, manchmal trage ich wieder die rote Laterne. Hier lerne ich Michael kennen, mit dem ich während der nächsten Stunden noch sehr oft die Platzierung tauschen werde. Beide rätseln wir darüber, ob wir heute langsamer als normalerweise laufen oder ob das Läuferfeld einfach nur schneller als bei anderen Wettkämpfen davon eilt. Diese Frage wird mich bis zum Ziel noch dauerhaft beschäftigen und ich finde bis heute keine Antwort darauf.
Nach etwa 90 Minuten erreiche ich die erste Verpflegungsstelle. Obwohl ich schon starken Durst habe, beschränke ich mich auf wenige Schluck Wasser, denn dessen Temperatur liegt knapp über dem Gefrierpunkt. Aber das Wasser in meinen Flaschen am Rucksack ist auch nicht wärmer. Ich beiße in einen Orangenschnitz, doch auch das fühlt sich so an, als hätte man ihn soeben aus dem Gefrierfach geholt.
Informationen: Trail des Roches