Zwei Stunden nach meinem zweiten Aufbruch von Saint Dié erreiche ich bei der Auberge du Spitzemberg die nächste Verpflegungsstelle. 42 km sind geschafft, doch ich bin bereits seit 7 Stunden unterwegs. Länger habe ich für die Marathondistanz bisher nur beim noch steileren Matterhorn Ultraks gebraucht. Anfangs verstehe ich nicht, was mir eine nette Dame mitteilen will. Erst durch deutsche und englische Sprachbrocken einiger anderer Helfer und von Läufern, die hier aus dem Rennen ausschieden, erfahre ich, dass ich das offizielle Limit um 8 Minuten überschritten habe. Ich erkläre mit Worten und Gesten, dass ich wegen unglaublich vieler Fotos für die Trailrunning.de-Reportage so spät kam und verspreche, während der nächsten Stunden schneller zu laufen. Schon um 11 Uhr von dieser tollen Strecke Abschied zu nehmen hätte mich wirklich sehr geärgert. Ich will unbedingt noch sehen, was die Organisatoren noch an krassen Trails für uns bereithalten.
Zu meiner großen Freude darf ich weiter laufen, auch Michael kann mir folgen. Aber nun muss ich wirklich Gas geben. In einem Tempo, das eigentlich eher zum Schluss-Spurt passt als zu einem noch 5 Stunden vom Ziel entfernten Streckenabschnitt, rase ich bergab. Zum Glück sind die folgenden Kilometer hinab in den kleinen Weiler La Petite-Fosse und der folgende Aufstieg anfangs relativ gut laufbar, so dass sich mein Kilometerschnitt wieder bessert.
Während ich kurz anhalte, um einen Riegel und ein Gel aus meinem Rucksack zu holen, marschiert Michael an mir vorbei. Zu dem dummen Verzicht, um 9 Uhr Wasser nachzufüllen, kommt nun noch die weitaus blödere Situation, dass ich vor einer halben Stunde wegen Cut-Off-Überschreitung an der VP erneut meine Flaschen nicht auffüllte und kaum etwas gegessen habe. Nun plagen mich Hunger und Durst. Keine gute Basis für einen Kampf mit dem Zeitlimit.
Die nächsten Kilometer verlaufen auf nicht besonders schweren Streckenabschnitten. Der Straßenübergang beim Col d´Hermanpaire wird von zwei Helfern gesichert, obwohl ich in keiner Richtung Autos sehe. Danach komme ich wieder an Unterständen aus dem Krieg vorbei. Dann geht es wieder sehr heftig und weglos bergauf. Auch hier täuschen alle Fotos über die wahre Steilheit hinweg. Welch tolle Plagerei! Die Fahrt in die Vogesen hat sich für mich wirklich gelohnt. Gegen diesen Hammer sind z.B. der Trail du Petit Ballon oder die Defi des Vosges bequeme Kindergeburtstage. Und damit will ich nicht behaupten, dass diese anderen Läufe leicht sind.
Eigentlich konnte man schon beim Betrachten der Homepage ahnen, dass die Veranstalter Humor haben. Statt dem üblichen Video-Trailer mit schönen Bildern und viel lobreichem Geschwafel zeigt dieser ungewöhnliche Film den Albtraum eines Läufers, der schon vor dem Rennen sehr seltsame Dinge darüber träumt.
Nach der Kraxelei folgt mal wieder ein fast ebener Forstweg zum Entspannen. Heute bin sogar ich über solche "Waldautobahnen" froh, damit ich zwischen all den Trails mal flott voran laufen kann.
Die meiste Zeit sehe ich weit und breit keine Menschen. Daher freut es mich, wenn ich zumindest ab und zu wieder kurz auf Michael oder einem französischen Läufer treffe. Bald darauf geht es wieder mit schnellen Trails weiter. Die nächste Cut-Off-Stelle naht, und ich weiß, dass es für mich sehr knapp wird. Wie ein Verrückter rase ich bergab und komme gerade noch rechtzeitig. Dieses Mal denke ich sogar dran, Wasser in meine Flaschen zu füllen. Wie schon an den letzten Stationen sehe ich einige Läufer am Boden sitzen, für die hier Feierabend ist. Doch ich will natürlich weiter. Gleich nach Aufbruch überhole ich zwei andere Läufer.
Ohne Besonderheiten führt mich die Route nun Richtung Westen. Ich freue mich darauf, dass wir an einer bedeutenden archäologischen Stätte, dem Camp Celtique de la Bure vorbei kommen werden, wo man heute noch keltische Verteidigungssysteme und große Grabstelen sehen kann. Doch leider führt unser Weg nur am Rande der Stätte vorbei.
Wieder ein schöner Trail entlang eines Bergrückens, beim Roche des Corbeaux große Felsformationen, es wird nie langweilig. Doch meine Wasservorräte schwinden bereits wieder.
Neben einer Hütte bei einem Parkplatz findet eine private Party statt. Da ich zuerst glaube, dies sei eine Verpflegungsstelle, gehe ich zu den Leuten. Als sie mir anbieten, mich zu fotografieren, hängt sich eine der Frauen an meine Schultern. Eigentlich mag ich es nicht, wenn sich fremde Leute auf ein Foto drängen, doch die Halbliter-Flasche Wasser, die sie mir mitgeben, erweist sich später als meine Rettung. Mit genügend Reserve kann ich nun häufiger einen Schluck trinken als zuvor und komme flotter voran.
Als ich einige Zeit später an einem Brunnen vorbei komme, bleibe ich eine Weile stehen, fülle auch die anderen Flaschen nach und trinke viel. Wenn ich geahnt hätte, dass die nächste Verpflegungsstelle nur fünf Minuten entfernt ist, hätte ich darauf natürlich verzichtet. Die VP bei km 65 erreiche ich offiziell auch zu spät. Mir fällt nicht auf, dass es die selbe Stelle ist, an der ich vorhin schon einmal verpflegt wurde, aber von einer anderen Seite ankam. Nun räumen sie hier schon die ersten Bänke ins Auto. Doch die Helfer glauben, dass ich es zum Ziel schaffen kann. Kurz nach mir trifft auch Michael ein. Ich wünsche ihm viel Glück für die restliche Strecke und eile weiter.
Noch 8 km mit 53 Minuten Sollzeit - bei leichter Strecke problemlos, aber nicht mit so vielen Höhenmetern dazwischen. Trotzdem gebe ich nun noch mehr Gas. Wenn schon zu spät, dann wenigstens mit tolerierbarer Differenz!
Der kleine Wasserfall Cascade des Moliéres sieht auf Fotos im Internet sehr hübsch aus, heute dagegen plätschert nur sehr wenig Wasser den Felsen hinab. Immer weiter laufe ich bergauf. Am höchsten Punkt, beim Roche des Fées (793 m) verzichte ich mit Bedauern darauf, über eine Treppe auf den Felsen zu steigen. Die Aussicht auf weit unter uns liegende Saint-Die soll zwar sehr schön sein, aber jetzt will ich sehen, wie schnell ich etwa 450 Höhenmeter Abstieg hinunter sausen kann.
Zuerst geht es noch einmal recht steil abwärts, dann folgt ein Downhill-Trail, der mich so richtig zum Gas geben einlädt. Doch obwohl ich nun sehr schnell laufe, scheint es so, als würde ich mich dem Ort kaum nähern. Kurz vor dem Ortsrand überhole ich zwei andere Läufer, die selbst bergab nur noch gehen können.
Bei einer früheren TdR Veranstaltung durften die Teilnehmer am Schluss unter anderem auch ein paar Hundert Meter weit durch einen Bach laufen. Heute rennen wir bequem am Ufer entlang. Durch den Ort ist die Strecke auch hier wieder hervorragend markiert und jede Straßenüberquerung von Ordnern gesichert.
Das Zeitlimit von 12 Stunden überschreite ich um 13 Minuten, werde aber dennoch in der Ergebnisliste gewertet. Sieben Läufer kommen noch später an, der letzte eine halbe Stunde nach mir.
Auch zwei Tage nach dem Lauf grüble ich noch immer über der Frage, ob ich beim TdR nur wegen schlechter Tagesform zu spät ans Ziel kam, ob es an meinem allgemeinen Trainingszustand liegt, oder ob der Lauf ganz einfach eine wirklich harte Nummer war. Egal! Er hat mir außerordentlich gut gefallen und ich wünsche mir, noch oft auf solchen hammermäßigen Trails laufen zu dürfen.
Informationen: Trail des Roches