Der Trail du Petit Ballon steht schon lange auf meiner Wunschliste. Als einer der ersten Trails im Jahr wird er von den Liebhabern unwegsamer Strecken hochgeschätzt. Die Anmeldezahlen sprechen Bände: an die 1200 Matschenthusiasten wollen 2015 wieder auf der 52 km langen Strecke dabei sein. Für Sprinter gibt es noch einen 27 km Lauf, bei dem der höchste Gipfel ausgespart ist, während die 9 km für Einsteiger gedacht sind.
Ausgangspunkt ist das elsässische Rouffach, kurz hinter der deutsch-französischen Grenze. Mit seiner wunderbaren Lage direkt am Tor zu den Vogesen, Frankreichs größtem zusammenhängendem Waldgebiet, ist der Ort auch von Deutschland aus optimal zu erreichen. Hier, zum Rhein hin, türmen sich die Vogesen als eine weithin sichtbare Gebirgskette mit vielen kahlen Gipfeln, den sogenannten Ballons, auf. Der höchste dieser Berge ist der Grand Ballon mit 1425 m. Namensgeber des Laufs und Höhepunkt der langen Strecke ist sein kleiner Bruder, der Petit Ballon, mit „nur“ 1267 m Höhe.
Da Norbert wegen seines gebrochenen Beins außer Gefecht gesetzt ist, trifft es sich gut, dass unsere Lauffreundin Kati diesen Lauf ebenfalls im Visier hat. Die Anreise am Morgen ist problemlos. Wir bekommen dank früher Ankunft einen Parkplatz direkt am Salle Polyvalente (Mehrzweckhalle). Dass kaum was los ist, wird sich bald gravierend ändern. Auf den aushängten Listen suchen wir unsere Startnummern. Die Schalter sind nach Nummern sortiert, die Abgabe des geforderten ärztlichen Attests unproblematisch. Es gibt noch ein neongelbes Shirt, eine Packung Nudeln und eine Flasche Cremant d'Alsace (Elsässischer Champagner).
Inzwischen ist die Halle proppenvoll. Schuhe werden geschnürt, Kleidung sortiert und die vom Veranstalter geforderte Pflichtausrüstung in Rucksäcke verstaut. Dann ist es Zeit, sich zum Start zu begeben. Die Toiletten scheinen Treffpunkt sämtlicher weiblicher Teilnehmer zu sein, denn die Schlange will einfach nicht kürzer werden. Langsam wird die Zeit knapp. Zum Start sind es gut 300 m Fußmarsch. Dort angekommen, versuche ich mich im Starterfeld nach vorne zu drücken, um ein paar Fotos von den Cracks zu erhaschen. Mir fehlen noch 10 m, als der Startschuss ertönt.
An den Zaun gequetscht lasse ich das Feld an mir vorbei und reihe mich hinten ein.
Mit Höllenlärm verabschieden uns die Zuschauer standesgemäß. Im Pulk überhole ich den Dudelsackspieler. Er lässt es sich nicht nehmen, die ersten Meter mitzutraben und gleichzeitig sein Instrument zu bearbeiten. Die Läufer finden das lustig und spenden reichlich Beifall. Natürlich ist auch Vorsicht geboten: Im dichten Feld muss man ganz schön aufpassen, nicht an Rucksäcken und Stöcken hängen zu bleiben. So verlassen wir den Ort. Eine scharfe Kurve nach rechts und wir gelangen in die Weinberge.
Die ersten Läufer ziehen bereits ihre Jacken aus. Trotz kühler Luft gewinnt die Sonne schon an Kraft. Es herrschen optimale Bedingungen: Temperaturen so um die 5 °C und strahlender Sonnenschein. Die nahen Vogesen liegen noch im Dunst und die tolle Landschaft macht Lust auf Laufen.
Wie in Weinbergen üblich, geht es ständig hoch und runter. Bergauf ist es auch auf Asphalt ungewohnt steil. Kein Wunder, dass hier alle gehen. Ein paar Kurven und einiges an Auf und Ab später, gibt es plötzlich Stau. 1000 Läufer verlassen den Weinbergweg und biegen auf einen Singletrail ab. Ohne Gedränge warten die Hinteren geduldig, bis sie an der Reihe sind. Ich habe weiter vorne Bekannte entdeckt und mit aktivem Anstehen erreiche ich diese tatsächlich. Ist das nun unfair? Ich schäme mich ein wenig. Aber die Atmosphäre im Feld ist so locker, dass mir das keiner krumm nimmt.
Irgendwann sind wir dann an der Reihe und genießen im flotten Gänsemarsch den gut zu laufenden Weg zwischen den noch kahlen Hecken. Es geht leicht bergab und wir erreichen einen Feldweg, der oberhalb von Westhalden entlangführt. Es geht wieder bergauf. Der Feldweg wird zur Betonstraße, die uns in steilen Serpentinen wieder nach oben bringt.
Die Weinberge liegen unter uns, als wir eine weite, nur von kahlen Büschen bewachsene Hochebene erreichen. Das Feld ist bei km 5 schon weit auseinandergezogen. Wer mit dem Genießen der Landschaft nicht ausgelastet ist, kann nun alle hundert Meter eine Märchenfigur bestaunen, die etwas unwirklich am Wegesrand lauert. Derart abgelenkt, kommen wir wieder bergab in die Weinberge. Hier befindet sich die Weiche für den 9 km Lauf. Unser Weg führt geradeaus an den fleißig applaudierenden Zuschauern vorbei.
Wir erreichen den Wald. Der Weg wird immer schmaler, bis wir auf einen idyllischen Singletrail abbiegen. Nun geht es zur Sache: in der Läuferschlange ist überholen unmöglich, so dass ich das Tempo meines Vordermannes mitlaufen muss. Glücklicherweise gelingt mir das ganz gut. So kann ich den Abschnitt voll auskosten. Der Weg ist wellig mit einer klaren Tendenz nach oben. Ich hatte gelesen, dass die Waldbewirtschaftung in den Vogesen wegen der steilen Hänge schwierig sei. Das kann ich gut nachfühlen. Zwischen großen, moosbewachsenen Felsen liegen umgestürzte Bäume mit Efeu überwuchert - ein richtiger Märchenwald.
Hinter einer Kurve kommt es plötzlich erneut zum Stau. Am Hang über uns erkennen wir bunte Läufer-Outfits wie Perlen an einer Schnur aufgereiht. Es wird steil. Wir warten, bis es vor uns weiter geht. Im gemächlichen Steigtempo erklimmen wir im Gänsemarsch auf abschüssigem Weg den Hang. Anschließend wird es flacher. Der Trail führt nun an der Bergflanke entlang. Rechts vom Weg geht es steil hinunter und links steil hinauf. Wegen der vielen Bäume hält sich meine Höhenangst in Grenzen.
Gerade als meine Beine allmählich schwer werden, kommen wir auf einen freien Platz mit einem Zelt: Der erste VP bei km 10 ist erreicht. Weil ich Iso nicht so gut vertrage, bleibe ich bei Wasser, das ich mit einem Würfel Zucker aufpeppe. Dann mache ich mich über die angebotenen Leckereien her: Es gibt Äpfel, Löffelbisquits, Trockenfrüchte und Stücke von Laugenbrezeln. Frisch gestärkt mache ich mich weiter auf den steilen Anstieg vor mir. Sogar Treppen sind zu überwinden. Dafür belohnt uns der Weg mit manch schönem Ausblick auf die Landschaft, die im Dunst unter uns liegt.
Plötzlich höre ich hinter mir schnelle Schritte. Der Führende des 27 km Laufs kommt angerannt. Für uns vereinzelte Läufer ist es kein Problem, hier Platz zu machen. Später auf einem schmalen Singletrail gestaltet sich das Ausweichen schwieriger. Nicht nur einmal weiche ich auf abschüssiges Gelände aus, um für die Schnellen kein Hindernis zu sein.
Wir verlassen den Wald. Eine weite Wiesenfläche liegt vor uns. Osenbach kommt in Sicht. In einer kurzen Waldpassage erkenne ich den Dudelsackspieler wieder, der an einer kritischen Stelle aufpasst, dass keiner den Abzweig verpasst. Panisch renne ich den schmalen Trail bergab. Denn hinter mir sind bereits wieder schnelle Schritte zu hören. Bevor ich seinen heißen Atem im Nacken spüre, weiche ich kurz links aus und lasse den Eiligen vorbei.
Schon von Weitem höre ich Applaus und lautes Anfeuern. Mit Schwung verlasse ich den Trail, um plötzlich in einem Pulk von Helfern und Zuschauern zu landen. Spät entdecke ich den für Läufer abgesperrten Weg und erreiche mit einem Restschwung den nächsten VP.
Hier gibt es eine noch größere Auswahl von Kuchen, dazu französische Salami und Käse. Auf meine Frage, ob in den bereitstehenden Thermoskannen Kaffee wäre, meint die Helferin, es handle sich um Tee. Dann nimmt sie meinen Becher, geht an einen der hinteren Tische und kommt mit Kaffee zurück. Mit einem Handkuss bedanke ich mich. Dann suche ich eine Bank und mache es mir in der Sonne gemütlich. Einen kleinen Stein befreie ich aus meinem Schuh; dann kann es weiter gehen.
Wir haben nun 17 km hinter uns. Am Abzweig für den 27 km Lauf stehen Zuschauer. Nur knapp können die Helfer verhindern, dass ein Sprinter den falschen Weg einschlägt. Der hätte sich vielleicht gewundert.