Wir laufen durch das verschlafene Osenbach und wieder in den Wald. Es ist mittlerweile richtig warm geworden. Selbst im Wald kommt man gehörig ins Schwitzen. Mitten auf dem breiten Weg kann ich von weitem Streckenposten erkennen. Sie haben die Aufgabe, die Läufer rechts auf den Trail zu weisen. Einer meint, es wären nun nur noch 31 km bis ins Ziel. Dass davon aber 10 km steil bergauf führen, lässt er unerwähnt.
Ich erkundige mich bei der Läuferin vor mir, ob wir bereits den langen Aufstieg erreicht hätten. Sie kennt sich aus, und bestätigt meine Vermutung. Ich bin mal gespannt, was es mit den gefürchteten 1200 Höhenmetern so auf sich hat.
Zunächst geht es auf einem schmalen Trail bergauf. Wir überqueren einen Waldweg und es geht weiter bergauf. Dann überqueren wir einen zweiten Waldweg und es geht nochmal bergauf. Hinter einem dritten sich kreuzenden Waldweg wird es dann übersichtlich. Ich kann sehen, wo der Trail verläuft: Bergauf. 23 km zeigt mein Distanzmesser an. Dann habe ich also nach einer gefühlten Stunde knappe zwei Kilometer geschafft. Im 15er Schnitt (15 Minuten pro Kilometer) quäle ich mich den Berg hinauf. Immer wieder kommen Schnellere von hinten. Ich lasse sie ziehen. Dranhängen ist für mich unmöglich.
Nach einer Ewigkeit zeigt der pinkfarbene Richtungspfeil auf einen Waldweg, der nach links abzweigt. Unerwartet wird es flach. Nach dem langen Anstieg gestaltet sich das Anlaufen allerdings mühselig. Trotzdem kann ich erfreulicherweise ein paar Läufer überholen. Schnell bin ich bei km 25. Ein Helfer schickt mich nach rechts zurück auf den Trail und wieder bergauf. Zunächst noch moderat, wird die Steigung dann immer heftiger. Ein Läufer vor mir zeigt auf den Boden. Im Vorbeilaufen erkenne ich einen Schneerest. Für ein Foto bin ich zu schnell vorbei. Hoffentlich kann ich später noch ein wenig Schnee fotografieren. Das wäre doch nett, so mitten zwischen den Frühlingsbildern.
Mitten im Wald kündigt ein Schild den nächsten VP an. Nach 300 m bin ich dort (km 26). Auf dem freien Platz ist es ganz schön schattig. Ich greife mehrere Stücke Kuchen und einen Becher Cola, um auf einem Bänkchen ausgiebig auszuruhen. Zwischen den Bäumen hindurch kann ich an der Flanke eines gegenüberliegenden Bergs größere Schneefelder erkennen. Auf dem Foto kommt das aber nicht gut rüber. Schade.
Jetzt geht es um eine Kurve und ich stehe plötzlich selbst im Schnee. Wirklich - da liegt Schnee auf der Straße. Ich suche mir eine freie Rinne und laufe vorsichtig bergab. Auch andere üben sich nun im Tiefschneelaufen.
Wir erreichen einen großen Platz mit vielen Zuschauern. Sie beachten uns aber kaum. Ihre Aufmerksamkeit ist auf die Gegenrichtung gerichtet, wo Läufer mit Schwung von oben kommen. Aha, der Rückweg. Wo geht es aber für mich weiter? Zwei französische Läufer zeigen den Weg. Es geht natürlich bergauf.
Im Steigmodus komme ich ganz gut voran. Die Franzosen vor mir verlassen unvermittelt den Kurs. Nanu, geht da ein Weg? Ja, hier biegt der Trail nach rechts und oben ab. Ich vergewissere mich, dass mein Hintermann den Abzweig ebenfalls gesehen hat und folge den anderen hinauf. Es ist unglaublich schmal und steil.
Wieder auf einem breiteren Weg kann ich zur Entspannung ein wenig joggen, um dann hinter einer Kurve im kompletten Winter-Wonderland zu stehen. Der Schnee ist knöcheltief. Nur eine schmale Laufrinne dient als Weg. Hinter der nächsten Kurve fängt dann der Ärger an: Steil, eng und vereist. Das sind keine guten Voraussetzungen für schnelles Vorwärtskommen. Manchmal brauche ich beide Hände, um mich an den Bäumen hochzuziehen. Die komplett schneefreien Passagen genieße ich dafür doppelt.
Vor mir taucht unvermittelt ein Helfer auf. Er feuert mich an und meint, das Schlimmste sei geschafft. Und wirklich, der Wald öffnet sich und vor mir liegt ein grandioses Panorama. Fast alle halten kurz inne, um diesen Ausblick zu genießen. Meine Uhr zeigt an, dass ich noch genügend Zeit habe, um den Cutoff in Osenbach zu schaffen.
Der Weg führt um die Kurve, da trifft mich fast der Schlag. Vor mir liegt ein hoher, baum- und strauchloser Berg. Müssen wir da etwa rauf? Die Läuferschlange an der Bergflanke bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Aber was soll ich machen? Also los.
Wenigstens liegt kein Schnee, als ich mich, einen Fuß vor den anderen setzend, nach oben schleppe. Der Petit Ballon hat ja noch zwei andere Namen: Kleiner Belchen und Kahler Wasen. Der Begriff Wasen ist althochdeutsch und bedeutet Wiese, ähnlich wie das alemannische Wort Belchen. Gemeint ist einfach eine kahle Kuppe und so passt dann auch die französische Übersetzung Ballon.
Schneller als erwartet, nämlich in 18 Minuten, erreiche ich den Gipfel (km30). Hier auf 1267 m Höhe thront auf einem steinernen Sockel eine liebreizende Marienstatue mit blauem Mantel. Die Inschrift „Regina Pacis ora pro nobis“ bedeutet: Königin des Friedens, bitte für uns. Schnell zücken die Läufer ihre Handys um das wunderbare Bild festzuhalten. Ich habe mein erstes Ziel erreicht. Diesen Gipfel wollte ich unbedingt bezwingen. Nun muss ich nur noch rechtzeitig nach Osenbach kommen. Für die 12 Kilometer dahin habe ich 109 Minuten Zeit. Laut Streckenprofil geht es nur noch bergab. Das müsste locker machbar sein.
Ich folge den anderen zu einem mit vergilbten Wimpeln geschmückten Weidetor. Der Streckenposten zeigt an, wo es weiter geht. Erst geht es den Grasberg hinunter. Wir sind auf der gegenüberliegenden Seite des Aufstiegs. Hier wird auf die Serpentinen verzichtet, es geht ohne Umweg abwärts. Obwohl es gar nicht mal so steil ist, komme ich nicht in den Laufschritt, denn der Weg ist löchrig wie ein Käse. Hier umzuknicken, könnte schlimme Folgen haben. Andere teilen meine Bedenken nicht und fliegen nur so zu Tal.
Es geht wieder durch ein Weidetor und über einen großen Parkplatz auf die Straße. Dort im Schatten liegt nun wieder Schnee. Im flachen Gelände komme ich trotz weichem und sulzigem Untergrund gut voran. Hinter einer Kuppe zweigen wir auf einen nun wieder schneefreien Trail ab. Ein Helfer scannt die Startnummern der Vorbeikommenden ein. So kann ausgeschlossen werden, dass jemand eine Abkürzung nimmt.
Bald verlassen wir den Steig und biegen auf einen breiteren Weg ab. Hier liegt nun so viel Schnee, dass die Läufer es vorziehen, ganz am Rand zu laufen. Auch ich halte Ausschau nach der sichersten Variante. Öfters wechsle ich von links nach rechts. Mehr als einmal zieht es mir die Füße weg. Super, wenn das „Fahrwerk“ eh schon verkrampft ist. Irgendwie gelingt es mir, unbeschadet den bereits bekannten Kreuzungspunkt zu erreichen.
Ein Läufer sucht denVP. Er meint, beim Aufstieg an dieser Stelle Getränke gesehen zu haben. Das erweist sich als Irrtum. Tatsächlich gibt es zwischen km 26 und 42 keinen Verpflegungsposten. Nicht umsonst gehört zur Pflichtausrüstung 1 Liter Wasser. Ich habe genug dabei und könnte aushelfen. Das scheint aber nicht nötig und so ziehe ich meiner Wege. Die Helfer weisen mich nach links. Es geht bergab. Es sind noch 10 Kilometer zum Cutoff. Der nun folgende Weg ist breit und bei mehr oder weniger starkem Gefälle gut zu laufen. Trotz müder Beine geht es ganz gut. Noch 8 km bis zum Cutoff.
Was macht der Streckenposten da mitten auf dem Weg? Oh nein, er deutet nach rechts - den Berg hinauf! „Nur ein kleines Stück“, meint er, was mich allerdings nicht tröstet. Mit brennenden Muskeln nehme ich die Steigung in Angriff. „Kleines Stück“ ist relativ. Klar, im Gegensatz zum Anstieg vorhin ist das nun wirklich nur ein kleines Stück. Ich bin jedenfalls froh, als es wieder bergab geht. Es sind noch 7 Kilometer zum Cutoff.
Bergablaufen ist für mich das Schönste. Normalerweise. Jetzt tun mir die Beine aber höllisch weh. Ich versuche einen lockeren Schritt. Leider ist der Weg streckenweise extrem uneben. Trotz der Trailschuhe spüre ich jeden Stein. Um tiefe Rinnen zu umgehen, wechsle ich ständig die Seite. Dass andere Läufer noch mehr Probleme haben, tröstet mich nicht.
Langsam wird mir das Gefälle zu viel. Ich freue mich über jede Steigung, um die Muskulatur zu entlasten. Pfeile auf dem Boden zeigen zum Singletrail, der hier rechts abzweigt. Es geht nun die letzten Kilometer auf weichem Waldboden – welch eine Wohltat. Dann geht es plötzlich ganz schnell. Raus aus dem Wald, zeigt ein Schild nach links und ich erkenne den VP, an dem ich den Kaffee bekommen hatte. Herrlich!
Kaffee gibt es jetzt keinen mehr. Dafür Cola und Tee, liebe Worte und eine immer noch reichliche Auswahl verschiedenster kleiner Snacks. 22 Minuten sind es noch zum Cutoff um 16 Uhr, und noch weitere 10 Kilometer bis ins Ziel. Das könnte ich gerade noch vor 17 Uhr erreichen. Damit wären 8 Stunden Laufzeit perfekt.
Nach ausgiebiger Stärkung nehme ich die letzte Etappe in Angriff. Diese ist mit dem 27 km Lauf identisch. Die Weiche gibt es nicht mehr, hier steht nun eine eindeutige Wegweisung nach links. Wir laufen über eine Wiese an deren Ende ein schmaler Weg beginnt. Dieser bringt uns direkt nach Osenbach. Hier geht es innerorts auf einem abgesperrten Weg an der Straße entlang. Am Ortsende werden wir auf einen idyllischen Radweg geleitet. Weitgehend flach geht es immer geradeaus.
Dass dann noch ein paar kleinere Steigungen folgen, will ich nur nebenbei erwähnen. Dann verlassen wir den Wald oberhalb der Weinberge. Es ist immer noch dunstig. Unter uns liegt ein großer Ort. Ist das bereits Rouffach? Es geht weiter bergab. Meine Oberschenkel stehen kurz vor dem Streik.
Helfer erwarten uns. Gefühlsmäßig würde ich nach rechts laufen. Tatsächlich weisen uns die Streckenposten nach links. Schon von Weitem kann ich die jetzt kommende Steigung erkennen. Zur Ermutigung kündigt hinter der Kurve ein Schild die letzten 3 Kilometer an.
Im lauschigen Eck an der Chapelle de Oelberg ist die letzte Möglichkeit, sich zu stärken. Nicht, dass ich wirklich durstig wäre, aber ein Schluck Cola weckt nochmal letzte Reserven. Zwischen Hecken führt der enge Trail. Noch 2 Kilometer. Immer noch oberhalb von Rouffach gelangen wir erneut in die Weinberge. Es geht rechts, nochmal leicht bergauf. Dann auf einer Wiese endgültig bergab. Der letzte Kilometer ist noch einmal eine Tortur für die Oberschenkel; die folgenden 500 m im Ort sind dann geschenkt. Vor dem Ziel haben sich viele Helfer versammelt und empfangen die Finisher mit einer LaOla Welle. Ich bin so platt, dass ich vergesse, diesen glückseligen Moment im Bild festzuhalten. Noch eine Kurve und ich gehe über die Zeitmessung ins Ziel. 8 Stunden und 2 Minuten zeigt die Elektronische Zeitmessung.
Total erledigt werde ich zu einem Zelt geleitet. Hier gibt es zunächst für jeden Finisher eine schöne weiche Fleece-Weste und dann etwas zu trinken. Ein Stückchen weiter dann noch mehr zu trinken und diverse Reste der Zielverpflegung.
Fazit:
Organisation – top, Preis/Leistung – top, Strecke – top, Helfer – top, Wetter – top mit Sternchen. Wenn alles glatt geht, sind wir nächstes Jahr wieder dabei. Ich frage mich nur fassungslos, wie die Sieger diese anspruchsvolle Strecke in unter 4 Stunden bewältigen?
28.03.17 | Erster ECU-Wertungslauf 2017 über den Petit Ballon |