Dass Klima und Wetter nicht das Gleiche sind, wird einem gerade jetzt deutlich bewusst, wenn man sich im Schatten aufhält. Die Bedenken kurz nach dem Start, dass ich viel zu warm angezogen bin, sind schon längst verflogen. Der Kälteeinbruch, der gestern die beiden Spitzen der Vogesen nochmals weiß überzogen hat, ist immer noch bemerkbar. Und in Anbetracht der Tatsache, dass es von hier aus bis zum Gipfel des Petit Ballon nochmals 900 Meter Höhenunterschied gibt, lässt mich von Änderungen an meiner Umhüllung Abstand nehmen.
Beim Brunnen wird die Strecke des Rückweges gekreuzt. Der Kapellenweg danach ist gewissermaßen der Auftakt zu dem bis zum Gipfel mehr oder weniger kontinuierlichen Anstieg. Das Waldgebiet, welches durchquert wird, ist eine Enklave der Gemeinde Rouffach, der Forst des Ausgangspunktes. Verschiedene Varianten von Wegen und Pfaden besorgen den Füßen Abwechslung, und von oben dringt die Sonne ungehindert durch den Eichenhain, dessen Blätter welk am Boden liegen. Je mehr Höhe wir gewinnen, umso mehr nehmen Tannen den Platz der Laubbäume ein. Wie in einer Kunstausstellung betrachte ich die Sohlenabdrücke im feuchten Waldboden und lasse die verschiedensten Muster auf mich wirken. Plötzlich entdecke ich in diesem Potpourri eines mit hohem Wiedererkennungswert: ein Markenkollege muss sich vor kurzer Zeit mit den Gumminoppen seiner Schuhe in den Hang gekrallt haben. Nach viereinhalb Kilometern ist der Col du Firstplan erreicht, der 720 Meter hohe Pass, welcher die zentralste Möglichkeit bietet, vom Munstertal ins Lauchtal zu gelangen.
Obwohl die folgenden vier Kilometer nochmals 200 Meter ansteigen, ist es ein regenerativer Abschnitt. Die Schlaglöcher auf der Forststraße sind vom Vortag noch mit Wasser gefüllt, das im Schatten im festen Aggregatzustand daliegt. Meist laufen wir aber in der Sonne und haben zwischen den Bäumen hindurch Ausblick ins Tal und auf die hügelige Landschaft der Vogesen. Einfach herrlich! Das ist es, was Läufer unter Frühlingsgefühlen verstehen.
Ein kurzes Stück zum nächsten Verpflegungsposten am Col du Boenlesgrab könnte ich es einfach rollen lassen, was ich aber nicht durchgehend tue, denn der Blick auf die Nordostflanke des Petit Ballon, der sich hier auftut, kann ich nicht unfotografiert lassen. Von hier an befinden wir uns auf einer kurzen Begegnungsstrecke, auf welcher uns die Schnellen entgegenkommen, welche nicht nur sechs Kilometer mehr in den Beinen, sondern auch den Gipfel schon erklommen haben. Respekt!
Die Verpflegung am Col du Boenlesgrab ist zum Glück nicht so mysteriös wie der Name dieses Passes, dessen Herkunft sich mir bei meinen Recherchen nicht offenbart hat. Schokolade, Riegel, Apfel- und Orangenstücke, Dörrfrüchte, Kartoffelchips, Salzgebäck – sicher habe ich bei dieser Aufzählung etwas vergessen – und das ganze Angebot an Getränken werden angeboten. Seit der letzten Verpflegung habe ich mehrmals aus dem vorgeschriebenen, mitgetragenen Vorrat Flüssigkeit zugeführt, was mich jetzt aber nicht hindert, mir von der gereichten Cola gleich mehrere Becher einzuverleiben. Es ist nicht „the real thing“, aber die Elsass Cola ist lecker und erfüllt ihren Zweck. Ich entschwinde dem lasziven Blick der üppigen, diese Brause bewerbenden Lisbeth auf dem Werbebanner, mit welchem der Verpflegungsstand drapiert ist, und richte den Blick nach oben. Es gilt ernst. Ein Serpentinentrail zeigt, wo nun der Hammer hängt.
Etwas weiter oben wird der Weg zur unbefestigten Straße und bietet genug Breite zum bequemen Überholen. Das ist auch gut so, denn ich überhole und überhole – immer wieder die gleichen Leute. Alles was ich an Boden gutmache, verliere ich bei meiner Jagd nach Fotomotiven, welche keine große Anstrengung bedeutet. Die Stimmung mit der Sonne, dem Spiel von Licht und Schatten, die Stellen, an welchen noch Schnee liegt und der Raureif im Geäst, dies alles hat etwas Unwirkliches, Märchenhaftes. Nur die Bewegungen der Muskeln in den Beinen beim Überwinden der Höhenmeter stellen den Bezug zur Wirklichkeit dar. Aber ich bin auch überzeugt, dass mir dieses Verschmelzen mit der Umgebung, dieses Verweben von Träumerei und Wirklichkeit nicht gelingen würde, wenn ich wie einige Zuschauer mit dem Auto bis zum Beginn des letzten Anstiegs gefahren wäre. Indem ich mich aus eigener Kraft hochgearbeitet habe, bin ich in dieses Hochgefühl hineingewachsen.
Ein großer, grüner Wegweiser zeigt an, wo es zum Gipfel hochgeht, obwohl es auch ohne solchen Hinweis keinen Zweifel darüber geben würde. Der Pfad auf der Kuppe ist praktisch schneefrei, das Gras liegt, von der Last des Winters müde geworden, dürr unter unseren Sohlen.
Das Ankommen auf dem Gipfel des kleinen Belchen oder Kahlen Wasen, wie seine deutschen Bezeichnungen lauten, ist äußerlich sicher nicht zu vergleichen mit dem Erklimmen eines Alpengipfels. Innerlich stellt sich jedoch die gleiche Zufriedenheit ein. Ich kann nicht anders als innehalten und genießen. Ich lasse den Rundblick auf mich einwirken, den Blick in die Ferne, und auf die umliegenden Hügelzüge. Deutlich erkennbar ist der große Bruder, der Grand Ballon mit seiner Kugel, in welcher eine Radaranlage steckt, welche die Flugzeuge sicher nach Basel und Straßburg leitet.Mir geht es gut, iIch brauche keine weiteren Hilfsmittel, ich habe alles, was er für einen Höhenflug braucht.
Der Abstieg führt über Weiden und Singletrails, wieder hinab zum Boenlesgrab. Nach der Verpflegung und dem kurzen, schon vom Hinweg bekannten Stück, geht es wieder hinein in den Wald. Die schmalen Pfade zwischen den Bäumen erfordern höchste Aufmerksamkeit. Der Blick ist mit Anspannung und Konzentration voraus und auf den Boden gerichtet. Die kleinste Unachtsamkeit würde zum Stolpern und damit fast unweigerlich zum Sturz führen.
Ich hole Gerhard ein, auch er einer von denen, die durch unsere Website kurzfristig von diesem Traillauf erfahren haben. Er fragt mich: „Wie geht es dir?“ Kaum sind die Worte „Danke, bis jetzt bestens“ über meine Lippen gekommen, bleibe ich mit der linken Fußspitze an einem kleinen Stein hängen… Doch diesmal gelingt es mir, mich aufzufangen. Ich nehme es als Warnung und blende alles andere als das genaue Erfassen des Weges vor mir aus.