… könnte man als Devise für die nächsten 9 km ausgeben. Denn ab hier beginnt der wohl anstrengendste Part des Kurses, wenn man bedenkt, dass auf diesen immerhin mehr als die Hälfte der gesamten Höhenmeter entfallen.
Durch den Foret de Rouffach geht es sogleich steil nach oben. Einmal mehr lässt sich trefflich der Vergleich mit einer Ameisenstraße ziehen, als welche die endlose Läuferkette auf dem als Single Trail durch den dichten Wald führenden Pfad erscheint. Schritt für Schritt erstapfen wir uns schweigend die Höhe. Wer sich Gedanken darüber macht, wann das wohl ein Ende nimmt, dürfte leicht frustriert sein. Denn die Steigung will einfach kein Ende nehmen. Wohl dem, der sich mit Laufstöcken und Armeskraft ein wenig mehr Schub geben kann. Eine Passage über einen flachen, breiten Forstweg verspricht zwischenzeitliche Entspannung, gewährt aber nur eine kurze Verschnaufpause. Schon geht es weiter bergan.
Mit einem Mal lichten sich die Baumkronen. Helligkeit, ja gar blauer Himmel tut sich vor meinen Augen auf. Und vor mir wölbt sich in weißem Kleid und sonnenbeschienen eine mächtige Rundung. Kein Zweifel: Das ist der Petit Ballon. Und alles andere als „petit“ wirkt er in dieser Umgebung. Ich muss erst einmal schlucken. Auf diesen mächtigen Berg muss ich auch noch rauf?!
Laut Streckenplan 25,8 km liegen hinter mir, als ich an eben dieser Stelle, Plaine de Rouffach genannt, in 881 m Höhe eine weitere Verpflegungsstation mit Panoramablick genießen und mir schon einmal Gedanken über die Bewältigung der bevorstehenden Gipfeletappe machen darf. Die kühle Cola kommt gerade recht als Motivationsschub. Ein wenig mehr Zeit für Speis und Trank sollte man sich auch deshalb nehmen, weil die nächste Gelegenheit erst wieder nach 16 km kommt.
Schnee – dass der Petit Ballon noch reichlich davon bietet, konnte ich schon sehen. Aber hinter der nächsten Kurve stehe ich unvermittelt bereits mittendrin. Feucht und weich ist er und man muss darauf achten, nicht bis zu den Knöcheln im Sulz zu versinken oder auszurutschen. Andererseits: Laune macht das auch. Ein paar hundert Meter weiter, bei km 26,5, ist mit dem Col de Boenlesgrab der nächste Schnittpunkt von Hin- und Rückweg erreicht. Trauben von Zuschauern, mit dem Auto in die Bergeinsamkeit angereist, machen Stimmung. Doch gilt ihre Aufmerksamkeit weniger den Ankömmlingen von unten („arme Würstchen“) als denjenigen, die von oben kommend als Gipfelbezwinger („Helden“) vom Petit Ballon bereits zurückkehren.
Gut 400 Höhenmeter stehen mir auf den nächsten drei Kilometern bevor. Auf sonnenüberfluteten, wieder schneefreien und bequem-breiten Waldwegen geht es weiter. Wäre da nicht die permanente Steigung, könnte man wunderbar dahin traben. So aber schleicht die Karawane nur gemessenen Schrittes dahin. Vom Gipfel: keine Spur. Blickdicht umschließt uns der Wald. Daran ändert sich auch nichts, als wir unseren Weg auf schmalen, ausgesetzten Pfaden fortsetzen. Teils vereist und verschneit sind sie. Immer mal wieder denke ich: jetzt müsste ich doch langsam oben sein. Aber wie schon zuvor gesagt – denken sollte man hier nicht. Schicksalsergebenheit ist das Gebot der Stunde.
Doch irgendwann sind die Zeichen der Höhe nicht mehr zu übersehen: Die Vegetation wird dünner, der Himmel weitet sich und hinter einer Kurve ist es auf einmal so weit: Nein, nicht der Gipfel ist erreicht. Aber vor mir türmt sich der Gipfel des Petit Ballon als kahle, baum- und strauchlose weiß-braune Kuppe. Als bunte Pünktchen sehe ich an dessen Flanke die Läuferkarawane empor schleichen. Die deutsche Bezeichnung „Kahler Wasen“ entpuppt sich als höchst präzise Beschreibung der Szenerie, bedeutet das althochdeutsche „Wasen“ nichts anderes als „Wiese“.
Ich reihe mich ein in die wie Büßer auf Wallfahrt den Hang empor schreitenden „Läufer“. Wer hier nicht mit profilierten Sohlen unterwegs ist, dürfte wenig Spaß haben: Denn wir haben auf dem Weg nur die Wahl zwischen glitschigem Schneematsch und schlüpfrigem Schlamm. Nichtsdestotrotz: Ich genieße die Szenerie, den weiten Blick über die Vorgesen. Und natürlich das Gefühl, es fast geschafft zu haben.
Eine Viertelstunde später ist es soweit: 29,6 km sind zurück gelegt, als ich nach 4:30 Stunden den Gipfel des Petit Balon auf 1.272 m üNN erreiche. 1.272 m – in den Alpen ist das nichts, hier aber eine echte Herausforderung. Eine blaue Marienstatue krönt den Gipfel, bunte Fähnchen wehen, geradezu chillig ist die Stimmung. Wo ich auch hinschaue, halten die Läufer zum Foto oder zum Handyvideo inne. Das „Gipfelglück“ muss man einfach festhalten.
Auf der jenseitigen Bergseite wartet der Abstieg schon mit einem besonderen „Schmankerl“. Statt Abstieg wäre wohl „Abrutsch“ die treffendere Bezeichnung. An die geschlossene Schneedecke des Nordhangs wagt sich jeder anders heran: der eine im waghalsigen Schweinsgalopp, der andere mit vorsichtigem Trippeln. Wie auch immer: Der Erlebnis- und Erinnerungswert ist hoch.
Das Erreichen des Gipfels markiert gleichzeitig den Wendepunkt des Streckenkurses. Ab jetzt geht es gen Osten zurück gen Rouffach. Etwa 12 km sind es von hier jedoch erst einmal bis Osenbach. Bis 16 Uhr muss man dort sein, sonst schnappt die Soll-Zeit-Falle zu.
Hat man den „Abrutsch“ über den steilen Nordhang wohlbehalten überstanden, wird es geradezu gemütlich. Durch ein Weidetor vorbei an einem Parkplatz gelangen wir auf einen breiten Weg, der zwar schneebedeckt, aber geräumt und gut zu belaufen ist. Entspanntes Traben ist angesagt, vorausgesetzt, die Beinmuskulatur macht das noch klaglos mit. Ich klage nicht – meine Beine sehen das aber anders. Der Wald ist wieder unser Laufrevier und die Kilometer fließen nur so dahin. Der Schnee wird allmählich weniger, der Matsch dafür umso mehr. Nach km 33,1 erreichen wir bei Boenlesgrab die schon bekannte Wegkreuzung.
Anders als auf dem Hinweg laufen wir nicht erneut die so schön gelegene Verpflegungsstelle an. Spätestens jetzt weiß man, warum man seinen „Pflichtliter“ so lange durch die Natur getragen hat. Schnell schmilzt er auf dem folgenden Abschnitt dahin.
Ich verliere jede Orientierung und auch das Gefühl für Entfernung und Zeit. Breite Forstwege und schmale Waldpfade wechseln einander ab. Einsam ist um mich herum geworden. Aber die Wegmarkierungen mit lila Pfeilen und Trassierbändern sorgen stets dafür, dass ich auch so nicht vom rechten Weg abkomme. Geradezu Exoten im permanenten Abwärtslauf sind kleine Gegenanstiege. Und ein gutes Alibi, wieder in den Walkingschritt zu verfallen.
Ich warte auf Osenbach, bin schon voller Vorfreude auf ein Päuslein am Verpflegungsstopp. Aber Osenbach will einfach nicht kommen. Dann ein Straßenschild: Osenbach 6 km, für Fußgänger: 1 Std. Ich bin frustriert. Was ich in diesem Moment nicht weiß: Wir nehmen nicht den „normalen“ Weg, sondern kürzen sozusagen über Stock und Stein durch den Wald ab. Eine knappe halbe Stunde später ist es geschafft: Ich strecke meine Beine aus, schütte Cola in mich hinein und bin selig.
Der Marathon ist geschafft, 10 km liegen noch vor mir. Ich komme ein weiteres Mal an die Weiche für die 27 km-Läufer, deren Kurs wir ab hier nun folgen. Über eine Wiese geht es hinein ins beschauliche Osenbach und auf einem bequemen, flachen Radweg weiter durch den lichten Laubwald. Eine letzte größere Steigung ist noch eingebaut, bis wir nach etwa 47 km endgültig den Wald verlassen und erneut ins Weinrevier eintauchen.
Eine letzte Verpflegung ist bei km 48,1 vor der lauschig an einer Wiese gelegenen Chapelle de Oelberg eingerichtet. Eigentlich ein schönen Ort zum Verweilen, aber das nun nicht mehr ferne Ziel lockt. Ein schmaler Trail zwischen dichten Hecken führt weiter über den Hügelkamm. Die Hecken enden und unvermittelt habe ich …
Wunderschön ist die Kulisse aus der Höhe: Weinberge senken sich unter mir den Hang bis an die Stadtgrenze hinab. Dahinter überblicke ich Rouffach in seiner gesamten Ausdehnung. Stolz und mächtig ragt die romanisch-gotische Pfarrkirche Notre-Dame de l'Assomption Kathedrale im Ortszentrum aus dem Dächermeer.
Im Zickzack werden wir durch die Rebkulturen gelotst, zuletzt über eine Wiese und hinein in den Ort. Zaungäste spenden freundlichen Beifall, als ich mir meinen Weg durch die Gassen suche.
Und dann ist er endlich da: Der rote Zielteppich, der steinerne Zielbogen in der kleinen Parkanlage, das Zauberwort „ARRIVEE“. Heute Morgen ging hier noch „die Post ab“, jetzt erwartet mich die Beschaulichkeit eines ausklingenden Lauffestes.
Eine Fleece-Weste gibt es als Finisher-Präsent. Ich bin auf emotionalem Höhenflug – und „platt“ zugleich. Ein wenig mehr Kondition aus dem Winter mitzubringen hätte nicht geschadet. Andererseits: Sehr viel stimmungsvoller kann ein Auftakt in die Laufsaison kaum ausfallen.
28.03.17 | Erster ECU-Wertungslauf 2017 über den Petit Ballon |