Hendrik will sich in der Kälte nicht lange aufhalten, ich dagegen ziehe wieder mein Merino-Shirt unter die Jacke. Nass und kalt wie es ist, friere ich jetzt noch mehr. Auch die Handschuhe kann ich nun brauchen. Ich lege sie vor mir auf den Tisch, da kippt ein Becher um und das Wasser läuft in die Handschuhe. Zwei Becher Suppe reichen nicht, um meine Laune zu verbessern. Bibbernd setze ich den Rucksack auf und laufe weiter. Ich muss mich jetzt unbedingt durch Bewegung aufwärmen.
Weiter geht es mal bergauf, mal bergab, meist auf einigermaßen gut laufbaren Trails, nur ab und zu über rutschigen Schlamm. Manchmal sehe ich etwas von der Umgebung, dann umhüllt mich wieder ödes Grau. Ab und zu überqueren wir Bäche. Nasse Socken sind heute Dauerthema. An einem kleinen Pass reißt kurz die Wolkendecke auf, und ich erkenne in der Ferne ein paar hohe Gipfel. Hier steht ein Streckenposten in der Kälte und passt auf, dass die 45 km-Läufer links aufsteigen, wogegen die 21 km-Läufer geradeaus bergab laufen.
Ca. 300 Höhenmeter geht es hinauf. Manchmal folgen wir nur Wegspuren, aber dank der Markierungen gibt es keine Probleme mit der Orientierung. Kurz steigen wir über ein Blockfeld, welches aber deutlich einfacher ist als das, was noch vor uns liegt. Normalerweise hat man vom höchsten Punkt dieses Streckenabschnitts auf 2643 m einen grandiosen Blick auf die naheliegenden Gletschern.
Dann geht es etwa 600 Höhenmeter bergab, oft steil und sehr rutschig. Wo der Trail in einen Fahrweg mündet, treffe ich wieder auf die kürzere Route der 21 km-Läufer. Wer hier nicht aufpasst und statt zu dem Flatterband links unten zum Pfad rechts läuft, der wird irgendwann zurück zur Cabane de Mille kommen und seinen Irrtum erkennen.
Ich hole Hendrik ein und bis zur nächsten Verpflegungsstelle laufen wir wieder zusammen. Es ist ein fast völlig ebener Fahrweg, der unseren Kilometerschnitt erhöht. Gut zum Entspannen! Bei der zweiten VP haben wir schon 90 Minuten Vorsprung zum Zeitlimit. Das weckt voreilig Hoffnung. Ich brauche jetzt dringend etwas zu essen.
Erneut geht es anstrengend bergauf. Vorbei an einem schönen Wasserfall gewinne ich schnell an Höhe und hoffe, auf diese Weise recht bald den höchsten Punkt der Strecke zu erreichen. Ich laufe nun schon stundenlang fast ausschließlich durch dichten Nebel. Statt der schöner Aussichten bewundere ich die vielen schönen Bergblumen.
Das mitgeführte Wasser ist fast zu kalt zum Trinken. Ich weiß, wie viel ich beim Laufen pro Stunde trinken muss, andererseits kann ich kaum etwas von der kalten Flüssigkeit aufnehmen. Dazu kommt, dass ich ohne Wasser auch zu wenig von meinen Riegeln oder Gels nehme, was für eine weitere Versorgungslücke sorgt. Die Abstände zwischen den Verpflegungsstellen, bei denen ich wenigstens warme Suppe trinken kann, liegen für mich heute bei bis zu drei Stunden.
Wieder steige ich an einem windigen Grat entlang aufwärts. Immer weiter führt der Weg hinauf. Jetzt kann es eigentlich nicht mehr weit sein! Ein wahrhaft grandioser Irrtum! Hätte ich mir in den letzten Tagen noch einmal das Höhenprofil genau angeschaut, dann wüsste ich jetzt, welche Zacken hier oben eingezeichnet sind.
Nachdem ich im dichten Nebel endlich den scheinbar höchsten Punkt erreicht habe, führt der Trail steil in die Tiefe. Dann folgt der nächste Aufstieg. Dann der nächste Abstieg. Dann der nächste Aufstieg. Dann der nächste Abstieg. Nervt euch diese Wiederholung? Mich auch! Da ich nach wie vor von der Umgebung nichts sehen kann, habe ich keine Ahnung, wie weit es noch bis zur Hütte ist.
Doch langweilig wird es trotz Nebel dank der äußerst anspruchsvollen Wegführung nie. Wenn ein Schlamm-Fan wie ich manche der heutigen, extrem steilen und rutschigen Abstiege als grenzwertig bezeichnet, will das was heißen. Halleluja, ist das manchmal eine böse Rutscherei! Der „Höhepunkt“ kommt, als ich ausrutsche und mehrere Meter auf dem Rücken liegend neben dem Trail den Hang abwärts schlittere. Gar nicht lustig! Der Läufer hinter mir bekommt einen ordentlichen Schreck.
Ich glaube, dass ich in meinem Wettkampfleben insgesamt nicht mehr als fünf oder sechs Mal gestürzt bin. Heute komme ich auf diese Zahl innerhalb von wenigen Stunden. Noch spannender als der Schlamm sind einige Blockfelder. Beim Wandern mag ich solche Labyrinthe aus Steinen und Felsbrocken recht gerne, doch bei einem Wettkampf halten sie zu sehr auf. Hier gibt es keinen Weg, sondern nur noch ein unübersichtliches Gewirr unterschiedlich großer Felsbrocken, darunter viele, denen man nicht ansieht, ob sie stabil liegen oder nicht. Balancieren von Stein zu Stein, springen, mit Händen und Füßen steigen - hier kommt man nur unglaublich langsam vorwärts. Dann geht es scheinbar nicht mehr weiter. Fünf Meter zurück, eine neue Variante suchen, ein Sprung von einem Klotz mit schräger Oberfläche zur Kante einer kleinen, senkrechten Platte, dann zehn Meter über loses Geröll, mit Hilfe der Hände auf einen stabil aussehenden Klotz kraxeln - eine ausgesprochen kreative Auslegung des Begriffs „Laufsport“.