Kurz vor 5.00 Uhr werden die 350 Teilnehmer gebeten, sich in den Startbereich zu begeben, wo beim Eingang mit einem Handlesegerät der Chip erfasst wird. Registriert für große Taten stehen die expeditionsmäßig ausgerüsteten Wettkämpfer bereit. Keine Spur von Nervosität und Hektik. Es reicht allemal noch für ein paar Worte hier, ein paar Worte da.
Dann geht es hinaus in die letzten dunklen Minuten dieses Morgens. Außer im vorderen Bereich hetzt niemand los, denn nach einer kurzen Schlaufe im Dorf beginnt gleich der erste Anstieg. In der anbrechenden Dämmerung kommen wir auf den Geschmack und auf Touren für die bevorstehenden Kilometer und Höhenmeter. Auf der „Boucle“ sind das immerhin 110km und 6900Hm.
Im Zickzack schrauben wir uns hoch, dem Morgenlicht entgegen, während noch die Lichter Verbiers zu uns hochleuchten. Über Wiesen und Weiden, einer Suone (französisch: un bisse)entlang und durch einen schönen Nadelwald geht es über die Baumgrenze hinaus. Die bunte Läuferschlange windet sich den Berg empor und stört die morgendliche Ruhe eines Rudels Gämsen. Weil wir ihnen den Weg zu ihrem Rückzugsgebiet in der Geröllhalde versperren – ein Blick dort hinunter und mir kribbelt es in den Fingern und im Bauch – suchen sie sich andere Wege. Ich bin fasziniert von der Geschwindigkeit und der Trittsicherheit mit der sie sich vor uns Eindringlingen wegbewegen und erstaunt, wie ihre Hufen im Galopp den Boden zum Zittern bringen.
Der erste Kulminationspunkt unterhalb des Pierre Avoi ist erreicht. Von hier aus gibt es einen grandiosen Rundblick. Die Morgensonne taucht die verschneiten Berge in ein warmes Licht, während die Täler noch schattig in der Tiefe liegen. Der aufgehenden Sonne entgegen geht es lockeren Schrittes zum Croix de Coeur, wo nach den ersten 1000Höhenmetern und dem Zehnfachen an Laufstrecke der erste Verpflegungsposten eingerichtet ist. Beim Eintritt in die Verpflegungszone wird wiederum der Chip eingelesen.
400 Höhenmeter werden bis zum nächsten Fixpunkt auf der Karte abgebaut. Das Profil der Strecke ist nicht nur im ausführlichen, vor der Veranstaltung zugestellten Roadbook enthalten, sondern auch auf der Startnummer aufgedruckt. Kleines Detail: Damit man es im Lauf lesen kann, steht es auf dem Kopf. Zu viel sollte man den Blick auf der dem Rhonetal zugehörenden Bergflanke nicht vom Single Trail nehmen, der längere Zeit an einer zerfallenen Suone entlang führt. Stellenweise ist das Gefälle so stark, dass bereits der erste Bodenkontakt der oberen Extremitäten mit dem feuchten Waldboden stattfindet.
Erholung für die erstmals geplagten Oberschenkelmuskeln gibt es beim gemächlichen Anstieg zum Col du Lin. Jetzt habe ich auch Zeit und Lust auf den noch ausstehenden Teil meines Frühstücks. Während ich zügig vorwärtsschreite, knabbere ich an einem Laugenbrezel. Ich spüle den letzten Bissen herunter und lasse es nach Levron hinunter rollen. Beim Dorfbrunnen erwarten uns freundliche Helfer mit flüssiger Verpflegung und wieder das Lesegerät für den Chip, von welchem die Daten ans Live Tracking geschickt werden. Mittlerweile wird zuhause ein Teil der Familie sich das erste Mal im Internet erkunden, wohin ich es schon geschafft habe.
Es geht bis zum Talgrund, doch zuvor müssen noch die Geleise der Eisenbahnlinie überquert werden. Weil in dem Moment gerade ein Zug kommt, muss ich warten. Vom Lokführer werde ich mit dem Signalhorn erst vor der Gefahr gewarnt, dann freundlich gegrüßt.
Entlang der Dranse de Bagnes gibt es einen Eindruck der Kraft des Wassers, dabei war der Regen des gestrigen Abends gar nicht so heftig.
Den Feldern entlang nähern wir uns Sembrancher, wo im Dorfkern der nächste Verpflegungsposten aufgebaut ist. Während ich mich verpflege und die Trinkblase auffülle, lausche ich den rassigen Klängen einer jungen Musikertruppe. Ihre Klänge tönen nicht landestypisch, ich tippe auf osteuropäische Musik. Ich kenne mich auf diesem Gebiet weniger aus als beim Laufen, ich meine aber, auf meinen Reisen in jene Länder ähnliche Harmonien bei Klezmer- und Romakapellen gehört zu haben.
Es ist 9.00 Uhr, 27km liegen hinter mir - aber erst 1237 Höhenmeter. Dies wird sich bald ändern. Sembrancher wird auf den engen Straßen des alten Dorfkerns verlassen und dann geht’s gleich wieder los. Zuerst noch auf der Schattenseite des Hügels steigt der Weg zuerst steil an, dann kommt der Wechsel an die Sonnenseite. Sofort kommt meine Temperaturanzeige in den roten Bereich, daran können auch die flachen Zwischenstücke nichts ändern. Mit dieser Schwierigkeit bin ich nicht allein. Der Brunnen im nächsten Dörfchen wird nicht nur von mir ausgiebig genutzt. Danach gibt es noch ein wenig Schonfrist bis es im Wald wieder richtig steil wird.