Am Verpflegungsposten auf der Passhöhe mache ich am Verpflegungsposten gemütlich Pause, trinke viel Bouillon und fülle die Trinkblase, um für den Anstieg auf den Col de Chevaux gerüstet zu sein. Nach wenigen Metern kommt eine kleine Biegung der Straße, dann zweigt der Weg ab. Wie wenn man um eine Hausecke herum in die Schattenseite tritt, ist plötzlich die Sonne weg und ein Wind kommt auf. Auf dem felsigen, steilen Weg ist dies sicher die angenehmere Temperatur, auf dem vor mir liegenden höchsten Punkt der Strecke (2714m) kann ich auf schlechtes Wetter jedoch gut verzichten. Kurz vor dem Kulminationspunkt komme ich mit Richard ins Gespräch und oben angekommen nehmen wir uns Zeit, uns gegenseitig abzulichten und die Jacken anzuziehen. Einerseits bringt uns die Temperatur dazu, andererseits beginnt es in diesem Augenblick an zu regnen. Ziemlich schnell und ziemlich heftig dazu. Wenn nicht der Regen wäre, würde ich mich in dieser Steinwüste auf Lanzarote im Timanfaya wähnen.
Höllisch kann dort die Hitze sein, höllisch steil ist hier der Abstieg und höllisch ungemütlich das Unwetter, das sich mehr und mehr über uns ergießt. Starkregen, versetzt mit Hagel, prasselt auf uns nieder und der schmale Pfad hat sich schon längst in einen braunen Bach verwandelt. Das Schneefeld, auf welchem wir weiter absteigen müssen, ist auch nicht gerade eine Erleichterung unserer Aufgabe. Aber es kommt noch schlimmer.
Bevor wir das letzte Stück hinunter in die Combe de Drône in einem Couloir auf einem langen steilen Schneefeld angehen sollten, setzt wieder starker Hagel ein, dazu beginnt es zu blitzen und zu donnern. Um dem Unbill der Witterung und der Gefahr des Blitzschlags etwas weniger ausgesetzt zu sein, entscheiden wir uns dazu, das Schneefeld zuerst zu traversieren und auf der anderen Seite so weit hinunterzusteigen, bis wir erst weiter unten wieder in das Schneefeld einsteigen müssen. Dort drüben gibt es wenigsten ein paar große Felsblöcke, neben welchen man sich ducken und ein Minimum an Schutz erhalten kann.
Kurz vor dem Wiedereinstieg ins Schneefeld verliere ich den Halt unter den Füßen. Der Aufprall auf den Rücken wird vom Rucksack gedämpft, gegen das Abrutschen kann ich aber nichts unternehmen. Ein paar Meter rutsche ich über nasses Gras und Steine, hinein in das Schneefeld, wo es mir gelingt zum Stillstand zu kommen. Endzeitstimmung. Das Gefühl von Sicherheit und Wohlempfinden kenne ich in diesem Moment nur noch vom Hörensagen.
Vorsichtig taste ich mich im Schnee hinunter, einmal sinke ich so tief ein wie das linke Bein lang ist. Auf diese Kältebehandlung könnte ich gut verzichten. Mir reicht es, dass ich bis auf die Knochen nass bin. Ich bin fast schon am unteren Ende des Schneefeldes, als Felsbrocken vom Kaliber eines Autorades auf der rechten Seite herunterdonnern. Nicht etwa Kleinwagenformat, eher 20 Zöller Breitreifen. Wenige Meter vor dem Weg, auf welchem es nun weitergeht, kommen sie zum Stillstand. Nichts wie raus hier!
Die Streckenmarkierung weist den Weg, der als solcher nicht mehr erkennbar ist. Auf dieser Bergwiese fließt überall Wasser. Beim Weitereilen höre ich hinten ein dumpfes Grollen, drehe mich um und sehe gerade noch wie eine Mischung aus Schnee, Felsen und Wasser von der Flanke des Berges abgeht.
Die Wegmarkierung zeigt an, dass es über eine Furt auf die andere Seite eines Baches gehen sollte. Nur ist da, wo sonst ein Bach und eine Furt sind, eine braune Masse von Wasser, die sich mit zerstörerischer Kraft talwärts wälzt. Hier gibt es nur für Lebensmüde ein Durch- und Weiterkommen. Wir bleiben auf der rechten Seite, gehen weiter und stellen fest, dass weiter unten von rechts ein anderer Bach in dieses reißende Tosen mündet. Wenn wir diesen nirgends überqueren können, sind wir hier gefangen. Auf der Suche nach einer geeigneten Stelle halten wir rechts und sind erleichtert, als wir feststellen, dass dieser Bach weniger Wasser führt und an einigen Stellen schmal genug ist, dass er mit einem kräftigen Sprung überwunden werden kann.
Zum Glück ist die Passstraße in Sicht, nach welcher wir uns ausrichten. Jetzt müssen wir nur noch einen Weg dorthin durchs Gelände finden.
Die Kombination von Kälte, Nässe und Stress dieser grenzwertigen Erfahrung bringt meine Zähne zum Klappern. Überhaupt, mir reicht es, ich habe genug. Wäre hier ein Kontrollposten, würde ich aussteigen. Insgeheim hoffe ich, dass die Rennleitung in Anbetracht dieser Situation den Lauf abbricht und ich ohne DNF diese Angelegenheit hier abbrechen kann.
Als kleine Schicksalsgemeinschaft schlagen wir uns ein Stück auf der Passstraße durch, bis wir wieder an dem reißenden Wasser sind, auf dessen anderem Ufer wieder Wegmarkierungen des TVSB zu sehen sind. Ziemlich genau an dieser Stelle führt auch eine schmale Brücke mit einseitigem Geländer über diese Angst machende Brühe. Den Blick stur geradeaus, die Hand fest am Geländer, bringe ich auch diese Mutprobe hinter mich.
Auf dem weiteren Weg nach Bourg St. Pierre lässt der Regen langsam nach und als einziges Hindernis stellen sich uns Kühe in den Weg. Entlang des Stausees Lac des Toules nähern wir uns langsam dem nächsten sehnlichst erwarteten Etappenziel. In der Mehrzweckhalle können wir uns mit warmen Getränken und Spaghetti aufwärmen und uns kleidungsmäßig auf die kommende Nacht vorbereiten, denn es ist jetzt schon 20.00 Uhr. Wir sind ohne Eile. Um die Herausforderung der nächsten 35km und 2400Hm bestehen zu können, lohnt es sich, Zeit in die Vorbereitung zu investieren.
Uwe, Richard und ich beschließen, vorderhand als Gruppe weiterzugehen und machen uns Dreiviertelstunden später auf die nächste Etappe. Drei Stunden später erreichen wir kurz vor Mitternacht die Cabane du Col de Mille, nachdem ihr Licht uns so manches Mal genarrt hat. Mehrmals schien sie uns so nah und verschwand dann einer Fata Morgana gleich wieder hinter einer weiteren Biegung des Bergweges.
Der Verpflegungsposten hier ist bereits der drittletzte auf unserer Expedition. Viel brauche ich nicht, die Spaghetti haben ein solides Fundament für diese Etappe geschaffen.
Fast 1500Hm tiefer liegt Lourtier, doch zuerst geht es noch nicht abwärts sondern auf einem Höhenweg der Nordflanke eines Dreitausenders entlang. Irgendwann finden wir nach einer Bachquerung die nächste Streckenmarkierung nicht mehr und tappen mit einigen anderen Teilnehmern in zweifacher Hinsicht im Dunkeln.