Endlich trifft der Schein einer Stirnlampe auf eines der Reflektorenbänder und durch Zurufen und Zuwinken mit den Lichtquellen werden wieder alle auf den rechten Weg geführt. Während dieses Zwischenspiels trete ich in ein Loch, lande mit einem Bein bis zum Knie im Wasser, rutsche aus, alles glücklicherweise ohne bleibenden Nachteil auf meine Lauftüchtigkeit.
Zu den Lichtern Verbiers sind es Luftlinie nur etwa sieben Kilometer. Bis ich dort ankomme, werden die Lichter erlöscht sein, denn zuerst muss ich noch ganz ins Tal absteigen, auf der anderen Seite nochmals 1200Hm überwinden, das Ganze noch auf mehr als einem Dutzend Kilometern.
Auch wenn ich weiß, dass der letzte Anstieg nochmals happig sein wird, beeindruckt er mich nicht. Es ist am Verpflegungsposten ein gutes Gefühl zu wissen, dass dies die letzte gröbere Bodenwelle vor dem Ziel ist und der hundertste Kilometer bald abgehakt sein wird.
Richard ließ sich im letzten Abstieg zurückfallen und so bilden wir bis auf Weiteres eine neue Laufgemeinschaft. Olivier geht voraus, nachher kommen Uwe und ich nach. Uwe zieht aber unwiderstehlich den Berg hoch. Wir beide anderen können da nicht mithalten. Die Stirnlampen, die weit oben am Hang zwischendurch zu sehen sind, sind unserer Motivation nicht unbedingt zuträglich. Wie muss es denen gehen, die uns von der anderen Talseite so hochkraxeln sehen, wie wir sie absteigen sehen? Da das Zeitlimit weit entfernt ist, spielt die Zeit sonst keine Rolle, weshalb wir uns immer wieder eine Verschnaufpause gönnen.
Die fehlenden Bäume links und rechts sind ein klarer Indikator, dass die Baumgrenze überschritten und damit der letzte Kontroll- und Verpflegungsposten auf La Chaux nicht mehr weit ist. Kurz vorher schließen wir zu einer anderen Gruppe auf, bei welcher Martin Wagen dabei ist. Nachdem wir in Biel schon das letzte Stück zusammen zurückgelegt haben, machen wir es auch so und lassen Olivier ziehen.
Beim Verlassen des Postens können wir die Lampen ausschalten. Das noch fahle Morgenlicht ist bereits hell genug, um den Weg zu beleuchten und vorerst geht es geradeaus. Die 780Hm verteilt auf sechs Kilometer erscheinen uns aber endlos. Obwohl, vielmehr, gerade weil das Ziel vor unseren Augen und zu unseren Füßen liegt, ist es ziemlich demotivierend, im Wald zuerst gefühlt in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, zudem tiefer zu Tal als wirklich nötig. So kommt es, wie wir befürchtet haben. Wir verlassen den Wald und sehen statt Verbier einen weiteren Hügel vor uns, zu dem wir erst wieder hoch müssen. Auf dieses Schlussbouquet würden wir gerne verzichten. Wir stellen uns vor, dass wir bei der Seilbahn sicher noch eine Runde auf der Montain-Bike-Piste drehen müssen. Das würde doch dazu passen…
Dann kommt der Moment, den ich mir schon lange vorgestellt und zwischendurch ganz fest herbeigesehnt habe: Wir gehen beschwingt durchs Dorf auf die Werbefahnen beim Place de l’Ermitage zu und gehen gemeinsam unter dem Zielbogen durch.
Ich habe es geschafft.
Ich bin nach Verbier gekommen, habe mir die ganze Strecke angeschaut und habe unterwegs die eine oder andere Widrigkeit überwunden. Für mich ist es ein Sieg, dass ich knapp 26 Stunden nach meinem Start als Finisher wieder in Verbier ankomme.
Mit dem Finisher-Shirt unter dem Arm und vier Qualifikationspunkten für den UTMB auf dem Konto gehen wir zügig zum Sportzentrum, wo ich lang unter der Dusche stehe und Dreck und Schweiß, aber auch die kritische Erinnerung an das weniger erfreuliche Erlebnis in der Combe de Drône abwasche.
Die danach geplante Ruhezeit verläuft kürzer als geplant. Irgendwie finden die Beine die Ruhe noch nicht, dazu scheint mir nach einiger Zeit die Sonne mit voller Kraft ins Gesicht. Also mache ich mich auf den Weg zurück zum Ziel, löse meinen Gutschein für die Spaghetti ein und kann mithelfen, die letzte Teilnehmerin im Ziel willkommen zu heißen.
Im Zusammenhang mit Marathons und erst recht mit Ultraläufen höre ich immer wieder den Einwand, so verrücktes Zeug sei doch nicht gesund. Wenn ich aber die Finisher um mich herum ansehe, dann sprechen ihre Gesichter eine andere Sprache. Tag und Nacht waren sie auf anspruchsvollsten Bergwegen in Hitze und übelstem Gewitter unterwegs. Und wie sehen sie aus? Müde, abgekämpft, erschöpft? Nein, glücklich, zufrieden, erfüllt! Kein Vergleich mit den Gestalten, die nach einer Freinacht am Sonntagmorgen auf ihren Zug nachhause warten. Keine Frage, ein Ultralauf dieser Währung ist gesünder als eine Nacht im Ausgang.
Mit dem Trail Verbier St. Bernard haben die Organisatoren einen in der Schweiz einzigartigen Lauf auf die Beine gestellt. Die Verdoppelung der Teilnehmerzahlen spricht eine deutliche Sprache in Bezug auf die Akzeptanz bei dieser in der Regel sehr erfahrenen Läuferschicht. Rundum ist alles bestens organisiert, einzig für das Notfalldispositiv bei außergewöhnlichen Wetterverhältnissen benötigt noch ein paar zusätzliche Überlegungen. Der Einsatz der Offiziellen und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern über so viele Stunden hinweg verdient eine besondere Erwähnung und ein herzliches Dankeschön.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht lange dauert und wie beim „großen Bruder“ in der Nachbarschaft eine Teilnahmebeschränkung eingeführt werden muss. Eine gute Auszeichnung wäre das allemal.