„Dicht unterhalb von Nauders zwängte sich die Yzolla durch eine nur wenige Meter breite Felsenlücke, eine schäumende, kochende, tobende Wassermasse, und ergoss sich dann in eine höhlenartige Spalte, in die noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Hätte jemand in diese laut lärmenden Tiefen eindringen können, er würde dort ein trübes Zwielicht angetroffen haben und hätte dann verzweifelt wie ein Gefangener auf dem Grunde einer eiskalten Zisterne emporgeblickt, ohne etwas anderes zu sehen, als nackte glänzende, senkrecht viele hunderte von Metern emporragende Felsmauern und in weiter Ferne eine schmale Öffnung, durch die ein blasser Lichtschimmer fiel.“
So beschreibt John Knittel 1934 in seinem Kultroman Via Mala die gleichnamige Schlucht. In Wirklichkeit hat auf der Strecke von Chur zum San Bernadino Pass nicht die fiktive Yzolla sondern der Hinterrhein dieses einmalige Naturdenkmal geschaffen. Zwischen 300 m hohen Felswänden schießt der tosende Sturzbach auch heute noch zu Tal. Für Menschen eigentlich ein unwirtlicher Ort, wenn hier nicht bereits in frühester Zeit die Haupthandelsroute vom Tessin über die Alpen verlaufen wäre. Unglücksfälle wurden einkalkuliert deshalb auch der Name Via Mala: Schlechter/böser Weg.
Mittlerweile führt neben der alten Kantonstraße die A13 durch die Schlucht und gewährt auch dem eiligen Automobilisten einen kleinen Einblick auf die bizarre Felsenwelt. Bereits zu Knittels Zeiten wurde die Schlucht für Touristen ausgebaut, Wege angelegt, Mauern geschichtet und Tunnel gegraben. Nicht weniger als 359 Treppenstufen führen heute hinab in die tiefe Schlucht.
Einen Tag nach dem Transruinaulta wird der Transviamala ausgetragen. Neben dem 19 km langen Hauptlauf gibt es die kurze Variante mit 11 km, den Juniorlauf mit immer noch 4,4 km, das meiste davon bergauf, und den Kinderlauf. Walker werden extra gewertet. Die Startplätze sind heiß begehrt und der Hauptlauf ist schon seit langem ausgebucht. Wer gestern schon den Transruinaulta gemeistert hat und heute noch den Hauptlauf schafft, darf sich „Schluchtenkönig“ nennen und kommt in eine gesonderte Wertung.
Heute gehen wir es gemütlich an. Start ist um 10 Uhr in der Neudorfer Straße in Thusis. Weil die Startnummer von gestern noch gilt, sind die Vorbereitungen auch schnell erledigt. Zusätzliche Ausrüstung wird ebenfalls nicht verlangt. Stephan Kaufmann, der Sprecher von gestern ist auch wieder am Start und ist immer noch bei bester Stimme. Seit 9 Uhr unterhält er die Läufer und Zuschauer mit Wissenswertem rund um den Lauf.
Pünktlich um 10 Uhr ertönen die dunklen Klänge der Tibia und es geht los. Viele Zuschauer, auch viele Läufer der späteren Starts säumen die Straße und feuern uns an. Zunächst geht es leicht bergab und wir erreichen die Via Spluga, den historischen Alpentransitweg, der von Thusis über den Splügenpass nach Italien führt. Vor uns türmen sich bereits die beeindruckenden Felsenwände der Schlucht (km1). Es geht leicht bergauf. Ich versuche noch zu laufen, finde mich aber trotzdem schnell am Ende des Feldes wieder. Es hat keinen Sinn, daher wechsele ich Laufen mit Gehen ab, um noch etwas Kraft zu sparen. Auf der breiten Straße ist gut zu laufen und so habe ich Muße, die einzigartige Landschaft zu genießen.
Die Läufer vor mir verschwinden in einem dunklen Tunnel, dem „verlorenen Loch“. Drinnen ist es gar nicht so dunkel, der Tunnel ist zu kurz, außerdem hat der Fotograf sein Blitzlicht installiert. Alle paar Sekunden wird es taghell. Etwas weiter streifen wir Rongellen. Das Dorf mit seinen 51 Einwohnern besteht aus weit verstreut stehenden Häusern oberhalb der Schlucht. Hier unten steht nur die Besenbeiz, ein netter Treff für Wanderer, Mountainbiker und Motorradfahrer. Wir laufen ein kurzes Stück auf der Kantonsstraße. Anschließend geht es links hinunter, hinein in die Schlucht. Unten angekommen, überqueren wir den Fluss und laufen auf einem Schotterweg. Bei km 4 gibt es die ersten Getränke.
Seit einiger Zeit kommen bereits schnelle Läufer von hinten. Die 2. Startgruppe ist 10 Minuten später gestartet und die Schnellen sind bereits an mir vorbei. Immer größere Gruppen folgen, die aber immer noch viel höheres Tempo haben als ich. Ich halte mich links um niemanden zu behindern. Bis zum ersten Trail geht alles gut. Nun wird es spannend. Auf dem steil ansteigenden Pfad ist Überholen äußerst schwierig. Zunächst bleibe ich immer wieder stehen und lasse die Eiligen vorbei. So komme ich aber kaum vom Fleck. So reihe ich mich ein, und versuche, rechts genügend Platz zu lassen. Das klappt auch ganz gut.
Ein Helfer warnt vor dem nun kommenden Gefälle. Es geht auch wirklich steil hinunter, da komme ich ganz gut mit. Obwohl der Weg mit Steinen und Wurzeln durchzogen ist, lasse ich es laufen. Das Tempo der anderen steckt an. Wir landen von Alphornklängen begrüßt auf der Kolonialstraße. Hier befindet sich ein Parkplatz mit Schautafeln über die Schlucht. Kein Wunder, dass sich auch Zuschauer einfinden, die uns kräftig applaudieren. Wir folgen der Straße durch eine Lawinenverbauung und über eine hohe Brücke. Hier ist die Schlucht ganz eng, grob geschätzt 5 Meter. Die gegenüberliegenden Felswände kommen dicht heran und unten in der Tiefe kann man das Wasser spritzen sehen.
Bei km 5 verlassen wir die Straße und erreichen die eigentliche Schlucht. Zunächst geht es Treppen hinunter dann weiter auf schmalem Pfad. Mittlerweile hat sich das Tempo der anderen Läufer meinem etwas angeglichen. Obwohl Laufen ja zu den Individualsportarten zählt, kommt hier so etwas wie Gemeinschaftsgefühl auf. Man ist fast im Gleichschritt und versucht die Füße da hin zu setzen, wo es beim Vordermann schon einmal geklappt hat. Das macht riesigen Spaß. Es geht mal rauf mal runter, dann über eine längere Holzbrücke. Nun wird es steinig und wurzlig, aber ich kann mich dem Temporausch nicht entziehen. Dass das schiefgehen könnte, daran denke ich nicht.
Plötzlich kommt die von mir gefürchtete Hängebrücke in Sicht. Es ist zwar nicht der Traversiner Steg, eine leichte Hängebrückenkonstruktion aus Holz, die es etwas weiter flussabwärts gibt, sondern die Pùnt da Suransuns, wo man über Granitplatten läuft, die über Stahlbänder gespannt sind. Aber bei den vielen Beinen, die sich darüber bewegen, schwankt sie auch ganz beträchtlich. Ich bin froh, als ich wohlbehalten auf der anderen Seite bin und muss erst einmal tief durchatmen. Es geht auch schon wieder bergauf.
Während des Aufstiegs merke ich, wie meine Beine müde werden. Vielleicht ist es besser, die Geschwindigkeit etwas zurück zu nehmen. Da auch immer weniger Läufer von hinten kommen, kann ich mein eigenes Tempo laufen. Eine längere Steigung bei km 7 bringt uns nach oben aus der Schlucht heraus. Der Trail ist aber noch nicht vorbei. Wir befinden uns nun ich einem lichten Wald und es geht immer weiter bergauf. Wieder einmal bewundere ich die Schweizer: Als wenn sie einen Sonntagsspaziergang machen, steigen sie mit ruhigen Bewegungen aber unglaublich schnell an mir vorbei.
Der Wald öffnet sich und das Val Schons liegt vor mir, unten kann ich Zillis erkennen. Darüber, allerdings auf der anderen Rheinseite, befindet sich Donat, das heutige Ziel. Ein gemütlicher Wiesenweg führt bergab und ein Gegenanstieg dann bergauf. Oben liegt die VP mit Bouillon, Iso und Tee, Bananen, Orangen, Riegel und - sind das nicht die Biberli von gestern? Es geht schon wieder bergab und über eine alte überdachte Holzbrücke, dann bergauf nach Reischen. Ein typisch schweizerisches Dorf erwartet uns mit gepflegten Häusern und engen Gässchen.
Die Straße führt weiter bergab. Bei km 9 zweigen wir auf einen steilen Trail. Die Trennung von Original (Hauptlauf) und Curta (kurze Strecke) wird hier angezeigt, die dann im Ort Zillis, wo sich auch einige Zuschauer eingefunden haben, erfolgt. Wir halten uns links, den Berg hinauf. Der trailige und steile Pfad führt an einer alten niedrigen Trockenmauer entlang. Eine Blindschleiche „schleicht“ über den Weg. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Bei km 10 wird der Trail zur Schotterpiste und dann zur asphaltierten Straße. Eine Zeitmessung registriert die Vorbeikommenden.
Der nächste Trail bietet abwechselnd Wiese, Erde und geschotterte Flussbette, bis wir bei km 11 wieder auf einem Radweg sind. Hier weht mir ein kalter Wind entgegen. Die Sonne hat sich hinter Wolken versteckt und man sieht, dass die Helfer an der VP frieren. Ich halte mich auch nicht lange auf. Es sind ja nur noch 8 km. Ich meine bereits Lautsprecherdurchsagen aus dem uns gegenüberliegenden Donat zu hören. Sicher ist der erste Läufer bereits im Ziel.
Das kleine Dörfchen Pignia besticht durch seine alten Bauernhäuser, die zum Teil noch aus Holz sind. Ich freue mich besonders, dass sich hin und wieder ein Einheimischer an die Straße stellt, um die Läufer anzufeuern. Am Ortsausgang ist der Abzweig für die Walker, wir halten uns hier links. Auf der Ruagn, so heißt die kleine Straße, die uns in Halbhöhenlage nach Andeer bringt, ist gut zu laufen. Es geht tendenziell bergab. Mit seinen knappen 1000 Einwohnern ist Andeer der größte Ort im Val Schons. Hier wird der grüne, auch international bekannte Andeer-Granit abgebaut, mit dem z. B. auch die vorhin überquerte Pùnt da Suransuns belegt ist. Außerdem verfügt der Ort über eine Heilquelle mit einem Mineralbad.
Seit einiger Zeit machen der gebürtige Allgäuer Martin Bienerth, genannt Floh, und seine ebenfalls deutsche Frau Maria Meyer von sich reden. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, in Andeer Käse traditionell herzustellen. Die Milch kommt nur von regionalen Bauern, der Herstellungsprozess unterliegt bestimmten ökologischen Anforderungen und die Vermarktung erfolgt direkt. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Selbst Jamie Oliver, der britische Starkoch, war schon zu Gast.
Hinter km 13 gelangen wir kurz auf die San Bernadino Pass Straße, dann geht es von der Rückseite nach Andeer hinein. Die Straßen sind leider leer. Hier war um 12 Uhr 15 der Start des Junior Laufs und die Begleiter sind bestimmt schon auf dem Weg nach Donat, um ihre Sprösslinge dort zu empfangen. Hinter Andeer gibt es noch einmal etwas zu trinken. Ich laufe auf Nadja, die aus Donat kommt, auf und Andreas aus Deutschland kommt von hinten. Beide kennen den Lauf (das ist bei Nadja auch klar) und deuten an, dass es wohl noch bergauf gehen wird. Ich gehe davon aus, dass das mit den Steigungen gestern nicht zu vergleichen ist und bin guten Mutes, den Lauf vielleicht noch mit um die 3 Stunden beenden zu können.
Wir brechen auf. Leider geht es hier schon leicht bergauf. Nadja und Andreas scheint das nichts auszumachen, sie joggen leichtfüßig voran. Für mich ist das gar nichts. Ich kann nur mit Kraft laufen, die mir dann vielleicht später fehlt. Also wechsle ich Gehen und Laufen ab. Im winzigen Örtchen Clugin geht es nochmals kurz bergab. Helfer weisen aber schon wieder nach oben. Nun wird es steiler. Ich falle in zügiges Gehen. Hinter dem Ort liegen grüne Wiesen. Hier führen weite Serpentinen nach oben. Nadja hat Schlachtenbummler, die sie schon seit einiger Zeit auf der Strecke begleiten. Nun scheint sich ihre Mutter angeschlossen zu haben; gemeinsam sehe ich die beiden nach oben joggen (km17).
Die Alphornbläser haben es sich im Gras gemütlich gemacht und klatschen, als ich vorbei komme. Zwei Zuschauer erkenne ich von gestern. Sie freuen sich, dass ich mich erinnere. Dann kommt eine Gruppe mit Helfern in Sicht. Sie verkünden, dass es jetzt nur noch bergab gehen würde. Es sind noch eineinhalb Kilometer. Der Blick auf die Uhr sagt mir, dass das noch für 3 Stunden reichen könnte. Ich raffe meine letzten Kräfte zusammen und renne bergab. Es geht in einer langen Kurve hinunter und über eine überdachte Holzbrücke. Ich kann Donat unter mir liegen sehen und auch schon die Lautsprecher hören (km18). Konzentriert laufe ich weiter am Ortsschild vorbei. Helfer sichern meinen Weg, es herrscht ziemlich viel Verkehr.
Dann um die letzte Kurve. Hier gilt es im Zielkorridor noch eine Brücke zu überwinden. Kein Problem, dann wird mir der Chip abgenommen, und die „Medaille“ umgehängt. Diese Medaille bekommen nur Läufer, die Transruinaulta und Transviamala gelaufen sind. Es ist ein Schlüsselanhänger mit einem geschnitzten Holzkrönchen als Preis für den „Schluchtenkönig“. Außerdem bekommt man das Viamala-Fazalet, ein kleines „Säumer Säckli“ mit Kräutersalz, Wurst, Käse und Brötchen.
Im Zielbereich herrscht tolle Stimmung. Immer neue Finisher laufen ein. Der Moderator ist immer noch nicht müde. Gerade ruft er die Kinder zum Lumpazi Lauf. Volksfest auf Schweizerisch. Norbert und ich gehen zum Essenszelt, um unseren Gutschein für die Zielverpflegung einzulösen. Zur Auswahl stehen Pasta oder Viamala-Pizokels, eine Graubündner Spezialität, ähnlich Kässpätzle. Dann geht es mit dem Postbus zurück nach Thusis ins Tal.
Fazit:
Ob es sich für Deutsche lohnt, wegen 19 zugegeben sehr schönen Kilometern in die Schweiz zu fahren sei mal dahingestellt. Aber die Kombi aus Tranruinaulta und Transviamala ist fantastisch. Um die Schlucht richtig kennenzulernen, reicht so ein Wettkampf natürlich nicht aus, da braucht man eindeutig mehr Zeit. Aber um seine körperlichen Grenzen auszutesten, ist der Lauf bestens geeignet. Und es macht Spaß, weil es eben nicht so lang ist. Die Organisation ist top, die Verpflegung auch. Tolle Helfer, stilvoller Start und Zieleinlauf sowie eine wunderbare Gegend runden das Lauferlebnis ab. Wir merken uns den Termin für nächstes Jahr auf jeden Fall schon mal vor.
21.10.18 | Schluchtenkönigin Teil 2 |
Birgit Fender | ||
25.10.15 | Tiefe Schluchten und bunter Herbstwald |
Günter Kromer |