Schwarz ist der Sand unter meinen Füßen, schwarz und schroff das Gestein. Asche und Lava säumen den Weg, wohin ich auch schaue. Mühevoll ist das Fortkommen, hinauf, immer weiter hinauf. Fast zweitausend Höhenmeter liegen hinter mir, bezahlt mit Strömen von Schweiß, auf dieser kleinen Insel im Atlantik. Wundersam ist die Landschaft, abweisend und unwirtlich einerseits, in leuchtendem, frischem Grün andererseits. Ein faszinierender Anblick. Mitten auf La Palma bin ich, einer Insel der Extreme. Und ein ganz besonderer Flecken auf dieser Erde.
Gerade einmal eineinhalb Jahre ist es her, dass ich erstmals meinen Fuß auf La Palma setzte, damals noch mitten in der Vulkankatastrophe. Nun bin ich schon zum vierten Mal auf „La Isla Bonita“, wie sie so treffend mit Beinamen lautet, und gehöre zu denen, die der Faszination dieser Insel erlegen sind. Sie ist objektiv schwer fassbar, diese Faszination, denn schöne Inseln gibt es auch andere, es ist mehr ein Gefühl. Da ist einerseits diese fantastische vulkanisch geprägte Landschaft mit allen Facetten zwischen Dschungel und Wüste. Dazu die bis über 2.400 Meter ansteigenden Berge, die La Palma in Relation zur Größe zur steilsten Insel der Welt und die Nähe zum Meer von fast jedem Flecken der Insel aus greifbar machen. Da sind auch die zahlreichen charmanten Dörfer mit viel traditionellem kanarischem Flair. Aber vor allem ist es diese entspannte Atmosphäre, das Laissez-faire, der freundlich-stoische Gleichmut der Palmeros, die zum „Wohlfühlen“ beitragen und nicht wenige, vor allem auch Deutsche, magisch anziehen und auch zum dauerhaften Bleiben motivieren.
Magische Anziehungskraft hat La Palma aber auch in läuferischer Sicht. Denn entlang der Route des Fernwanderwegs GR131 hat La Palma mit dem „Transvulcania“ einen der wohl spektakulärsten Ultraläufe dieser Welt zu bieten. Über die komplette Vulkankette der Cumbre Vieja und anschließend rund um die 9 km breite Caldera de Taburiente führt der 72,5 km lange Hauptlauf mit knackigen 4.735 Höhenmetern. Für mich wäre das eigentlich die Traumroute, doch die Befürchtung, dass mangels Kondition aus dem Traum ein Alptraum wird, lässt mich auf den 48 km langen, in diesem Jahr erstmals ausgetragenen „Volcanes“ Trail ausweichen, dessen Schwerpunkt die Vulkane der Cumbre Vieja bilden. Auf immerhin 2.850 summieren sich die positiven Höhenmeter auch hier, aber zumindest habe ich dafür elf Stunden Zeit. Freunde exzessiven Downhill-Runs kommen beim „El Roque“ auf ihre Kosten. Startpunkt ist der Roque de los Muchachos, der höchste Punkt der Insel auf 2.427 m üNN. Ziel ist das Meer. Umgekehrt geht das auch. Und das beim „Vertical Challenge“ sehr speziell. Aber dazu nachher noch. Etwa 2.000 Läufer sind es auch in diesem Jahr, die sich einer der läuferischen Herausforderungen stellen wollen.
Los Llanos im Zentrum der Insel gilt als „heimliche Hauptstadt“ La Palmas. Mag der Ort auch nicht ganz so pittoresk wie die offizielle Inselhauptstadt Santa Cruz sein, so ist er mit gut 20.000 Einwohnern jedenfalls einwohnermäßig die Nummer eins auf der Insel, und läuft ihr auch, wenn es ums Shoppen oder Ausgehen geht, den Rang ab. Ein weiterer Vorteil: Los Llanos liegt im Westen und damit auf der Sonnenseite La Palmas. Schon öfter erlebt habe ich, wie sich Wolken und Regen an den steilen Hängen entlang der Ostküste stauten und mir am westlichen Ende des Straßentunnels durch die Cumbre die Sonne entgegen strahlte.
In Los Llanos schlägt das Herz des Transvulcania. Hier wird zwar nicht gestartet, aber alles dafür getan, ein eindrucksvolles Finish auf der zentralen Plaza de Espana zu bereiten. Und hier findet man auch die sonstige Infrastruktur rund um den Lauf.
Schon drei Tage vor dem Lauf öffnet das Ultra Trail Village auf der Plaza Juan Pablo II seine Pforten. Einen QR-Code muss man vorweisen, um Zugang zum „Heiligsten“, der Startnummernausgabe, zu bekommen. Sogar einen Timeslot im Internet muss man für die Abholung buchen. Auf der anderen Seite geht es super fix, als ich gleich am Mittwoch um 18 Uhr „einchecke“. Der Starterbeutel ist so hochwertig gefüllt wie nie: Poppiges Shirt, wasserdichter Rucksack, leckere regionale Spezialitäten wie Honig, Mojo und Gofio. Das geht ja schon mal gut los. Freien Zugang hat man im großen Zelt zur Laufmesse gleich nebenan. Ein DJ legt auf, während man im üppigen Sortiment diverser Trail-Equipment-Anbieter stöbern kann.
Nett ist es auf der Messe, aber doch sehr viel netter auf der Plaza Espana ein paar Schritte weiter. Ein wunderbarer Platz, umrahmt von altkanarischen Häusern, dem Rathaus und der mittelalterlichen Kirche Nuestra Senora des Los Remedios, gesäumt von Lokalen und Cafes. Am schönsten ist der Platz allerdings rund um den runden Kiosco Aridane, wo man bei Tag wie bei Nacht stimmungsvoll unter gewaltigen indischen Lorbeerbäumen bei einem oder mehreren kühlen Bieren oder auch einem leckeren Cafe Barraquito abhängen kann.
Ab Freitag wird der freie Raum auf der Plaza Espana und zuführenden Straßen allerdings deutlich knapper. Mit Gittern werden große Flächen abgesperrt, für die große Leinwand und die Bühne, den Einlaufkanal mit rotem Teppich und das Zielareal. Man erahnt schon: Hier läuft am Samstag Größeres ab.
Schon am Donnerstagabend wird der läuferische Reigen mit der Vertical Challenge eröffnet. Die Herausforderung: Gerade einmal 1,2 Kilometer, aber satte 278 Höhenmeter durch die Felswand am Strand von Tazakorte. Eine traumhafte Kulisse bietet der schwarze Sandstrand am Ausgang der aus der mächtigen Caldera de Taburiente gen Meer führenden Angustias-Schlucht. Auf der Promenade ist alles gerichtet für die große Lauf-Party. Rockmusik donnert aus riesigen Boxen, eine große Bühne mit Strahlern ist aufgebaut, Startbögen und Fahnen wiegen sich im Abendwind.
Im 15 Sekunden-Takt werden die gut 120 Teilnehmer ab 20:30 Uhr einzeln auf den supersteilen Kurs in die Wand geschickt, während die Sonne mit letzter Kraft die Kulisse in warmes Licht taucht. Hunderte säumen die Startgerade entlang der Promenade oder verfolgen aus den Cafes und Restaurants den Trubel, ein Sambatrupp feuert wild trommelnd an. Eine grandiose Stimmung begleitet die Läufer nach den ersten schnellen hundert Metern in den jäh, fast senkrecht ansteigenden Steilhang hinein. Und während es immer dunkler wird, erhellen riesige rotierende Strahler den Hang, in dem man die stirnlampentragenden Läufer nun wie Glühwürmchen emporziehen sieht. Hoch oben sieht man den angestrahlten Zielbogen. Was für ein Spektakel! 8:36 Minuten ist der Sieger unterwegs, dreimal so lang lassen sich die Letzten Zeit.
Startpunkt für den Ultra- wie für den Volcanes-Lauf ist die Südspitze La Palmas. Einsam thronen hier malerisch der alte und der neue Leuchtturm von Fuencaliente über den pechschwarzen, gischtumtosten Lavaklippen. Während die basaltgraue Säule des alten Turms fast mit der Umgebung verschmilzt, leuchtet der neue Turm in knalligem rot-weiß. Zu ihren Füßen erstrahlen weiß die im Küstenfels symmetrisch angelegten Salinenfelder, deren nett abgepacktes Salz viele Besucher als praktisches Souvenir mitnehmen.
An diesen entlegenen Winkel der Insel werden die Läufer aus allen größeren Orten per Shuttlebus gekarrt, die Transvulcania-Starter schon zu nachtschlafender Zeit, denn noch in der Dunkelheit um 6 Uhr fällt für sie der Startschuss. Da darf ich mich nicht beschweren, dass auch ich mich bis 6:45 Uhr am Busbahnhof von Los Llanos einfinden muss. Durch die Morgendämmerung schaukelt der Bus die Volcanes-Läufer dem Startgelände entgegen. Auf der Anfahrtsroute von Los Llanos aus passieren wir unter anderem das noch recht frische Lavafeld des Tajogaite, dessen Eruptionen Mitte September 2021 beginnend 85 Tage lang die Insel in Atem gehalten haben. Umso beachtlicher erscheint, wie schnell eine erste Piste durch den noch heißen Felsstrom angelegt wurde. Stehen bleiben dürfen die Fahrzeuge beim Queren aber nicht. Hot Spots gibt es nach wie vor reichlich.
Etwa eine Stunde später erreiche ich den Faro. Im Gegensatz zu den Frühstartern dürfen wir die beeindruckende Rundumkulisse bereits im Morgenlicht erleben. Und so auch einen optischen Vorgeschmack auf die inseleinwärts jäh ansteigende Mondlandschaft bekommen. Ganz bis zum Faro fährt der Bus nicht, sondern stoppt etwas höher gelegen an der Straße, sodass wir die letzten Meter auf einem sandigen, aussichtsreichen Trail hinab zu Fuß zurücklegen müssen. Morgendlich frisch ist es, aber heiße Rockmusik schallt uns vom Startgelände, bei den Bootsschuppen unterhalb der Faros und direkt am Meer gelegen, entgegen. Kurz wird das reichlich vorgeschriebene Pflichtgepäck gecheckt, dann geht es hinein in den Läufer Corral. Immer voller wird es, knapp 500 sind es letztlich, die erwartungsfroh dem Start entgegenfiebern. 40 davon wird das Los eines DNF ereilen, aber das ahnt im Moment wohl noch keiner.
Als AC/DCs Hymne „Thunderstruck“ ertönt, ist das gleichzeitig das finale Signal zum Aufbruch. Lautstark werden, vom Startmoderator befeuert, die letzten zehn Sekunden heruntergezählt, dann heißt es „Leinen los“. Durch den einsamen Startbogen ergießt sich der Läuferschwall auf die steil hinaufführende Rampe und sodann über das morgensonnenüberflutete Gelände der Leuchttürme einmal um selbige herum – ausnahmsweise im Flachen.
Gleich die ersten gut sieben Kilometer haben es in sich: 700 Höhenmeter sind zu bewältigen, diese allerdings primär auf Sand. Denn zwei Vulkane prägen die Südspitze La Palmas mit ihren Hinterlassenschaften. Zumindest das erste Wegstück folgen wir jedoch der asphaltierten Straße, die in weiten Serpentinen durch die schwarze Mondlandschaft aus Vulkanasche und Lavabrocken mäandert. Das trägt dazu bei, dass sich das Läuferfeld schnell und unbehindert entzerrt. Stetig geht es mühevoll bergan und schon jetzt denke ich: Auf was habe ich mich da bloß eingelassen!
Nach einem guten Kilometer zweigt der Kurs auf einen Trail ab. Seitliche Steinstreifen markieren den Wegverlauf durch die wilde, menschenfeindliche Landschaft, die von genügsamem Buschwerk langsam rückerobert wird. Ohne große Schlenker und damit entsprechend steil führt der Weg mitten durch die Sandwüste. Längst ist die Läuferkarawane aus dem Lauf in schnellen Schritt verfallen und überaus eindrucksvoll ist es, den langen Läuferlindwurm bis in die Ferne zu beobachten. Schicksalsergeben stapft einer hinter dem anderen. Überholen ist ohnedies kaum noch möglich, Beschleunigungsmanöver im weichen Lavasand sind unnütze Kraftverschwendung. Mir geht es dabei zunehmend besser, die grandiose Szenerie baut mich innerlich auf und ein Fotostop jagt den anderen. Wunderbar changieren die Farben der unberührten Sandfelder zwischen Schwarz-, Braun- und Rottönen, darin vereinzelt eingesprenkelt das Grün karger Natur. Dazu diese Ruhe und Stille.
Schon bald kommen die Urheber dieser Landschaft in Sicht. Zur Linken ist es der etwas zerrupft wirkende, rötlich-braune Vulkankegel des 439 m hohen und noch sehr jungen Teneguia. Erst 1971 ist er binnen drei Wochen entstanden. Deutlich heben sich die bizarr geformten, scharfkantigen Schlackefelder, die bei den Eruptionen entstanden sind, von den vergleichsweise weichen Lavasanden der weiteren Umgebung ab. Diese sind dem sich am Horizont um Einiges mächtiger erhebenden 632 Meter hohen Vulkan San Antonio zuzuschreiben. Im Vergleich zum Teneguia besitzt er einen richtig schönen, ebenmäßig geformten Kegel. 66 Tage dauerte der Ausbruch zuletzt 1677 und maßgeblich haben die seinerzeit sieben Lavaströme die Landschaft ganz im Süden der Insel geprägt, die wir nun durchlaufen.
Die Erosion der San Antonio-Lava hat bereits so weit geführt, dass in einer geschützten Senke niedrige Rebstöcke gedeihen. An diesen vorbei kommen wir dem Fuß des San Antonio immer näher und umrunden diesen auf einem breiten staubigen Fahrweg. Erstmals ist auch wieder so etwas wie Trab möglich. Wunderbar ist der Blick von hier oben in den nun unter uns liegenden Krater des Teneguia. Jäh endet der Trab an einem Abzweig. Ein überaus steiler Pfad katapultiert uns in schnellen Kehren über Fels und Sand, vorbei an urigen Tabaiba-Gewächsen in die Höhe, hinauf bis zum Parkplatz des Besucherzentrums des San Antonio.
Hier endet die Sandpiste. Durchaus angenehm fühlt sich zur Abwechslung der Asphalt der Straße an, auf dem wir unseren Weg in das oberhalb des Vulkans gelegene Dorf Los Canarios fortsetzen. Hübsch anzuschauen ist das Dorf mit seinen weißen Häuschen, grandios gelegen am Schnittpunkt zwischen der Mondlandschaft unterhalb und den pinienbewachsenen Hängen der Cumbre Vieja oberhalb. Eine letzte heftige Steigung, begleitet vom Beifall zahlreicher Dorfbewohner, bringt uns nach 7,3 km zur ersten Verpflegungsstelle, die allerdings nur Flüssiges bereithält. Etwas anderes brauchen wir aber auch nicht.
Als Cumbre Vieja wird der 14 km lange, bis auf fast zweitausend Meter ansteigende und durch eine Kette von Vulkanen geprägte Höhenrücken zwischen Los Canarios und dem Refugio El Pilar bezeichnet. Wie stark vulkanisch geprägt er ist, sieht man dem Naturpark aus der Entfernung nicht an, aber sehr deutlich, wenn man ihn entlang des GR 131 auf dem Kamm durchquert. Und das steht uns nun bevor.
Ein in Bronze gegossener Wandersmann markiert den Einstieg in die nächste Etappe, die uns über lange 9,5 km mit reichlich Höhenmetern bis zum nächsten und gleichzeitig höchstgelegenen Verpflegungspunkt führt. Über den eingangs noch grob gepflasterten Weg geht es sogleich mächtig nach oben, doch machen der Schatten der hoher Pinien und ein kühlender Luftzug den Anstieg erträglich. Zudem dürfen wir nun auch unsere Laufstöcke zum Einsatz bringen, was auf der ersten Etappe untersagt war.
Immer ausgesetzter und felsiger wird der Weg. Ein dichter Belag vertrockneter Nadeln verdeckt die Tatsache, dass der Untergrund primär aus grobem Lavagestein besteht. Auffällig viele Bäume haben eine schwarz marmorierte Rinde, ein Zeichen dafür, dass sie einst im Flammenmeer standen. Aber die Bäume sind so robust, dass Ihnen Waldbrände, wie sie immer mal wieder auf der Insel vorkommen, nichts anhaben können. Mit zunehmender Höhe lichter wird der Baumbestand, kanarische Kiefern bestimmen das Landschaftsbild. Herrlich ist der Kontrast des hellen leuchtenden Grüns ihrer langen Nadeln zum Schwarz des Felses und des Lavasandes, der mehr und mehr den Boden dominiert.
Über den Bäumen spitzt erstmals der Gipfel des 1.602 m hohen Vulkans San Martin durch, der sich zuletzt 1646 eruptiv bemerkbar gemacht hat. Immer lichter wird der Wald, öffnet sich der Blick über weite, glatte Lavasandhänge und von dort hinab bis zum glitzernden Meer sowie auf unter uns liegende Wolkenbänke. Eine erhabene wie unwirkliche Kulisse. Weiterhin geht es ohne Unterlass in die Höhe. In einem Halbkreis umrunden wir durch Sand und Geröll den Vulkan und folgen dem weiteren Verlauf des weiter aufstrebenden Kamms.
Beim Blick zurück darf ich feststellen, dass der Krater des San Martin bereits ein ganzes Stück hinter und unter uns liegt. Besonders eindrucksvoll aus der Höhe: Die rötliche Einfärbung der Asche rund um den Kegel, die durch das intensive Sonnenlicht verstärkt wird.
Ein kräftiges und auch kühles Lüftlein weht über den Gebirgskamm. Wir tauchen erneut ein in bewaldetes Gebiet und folgen einem breiten Aschestreifen, der sich in einer Schneise hindurch zieht. Zunächst wundert mich, dass der kräftige Wind auch hier nicht wirklich nachlässt. Den Grund kann ich schon bald erkennen: Über uns jagen Wolkenfetzen durch den Wald und nebeln ihn zusehends ein. Spätestens hier verstehe ich, warum zum Pflichtgepäck nicht nur eine Regen- sondern zusätzlich auch eine Windjacke gehört. Und die habe ich nun ganz schnell an, denn kaum sind die Wolken erreicht, wird es eiskalt. Mit ungemeinem Tempo jagt die feuchte Luft über den Boden und nicht nur einmal muss ich meine Schirmkappe festhalten, um ihren Abflug zu verhindern. Für Momente passeln auch dicke Regentropfen, man kann kaum erahnen, welche Kapriolen das Wetter das nächstes schlägt.
Eine geheimnisvolle, fast schon ein wenig unheimliche Stimmung verbreitet der Wolkensturm. Unerfreuliche Nebenwirkung ist, dass er auch jeden Fern- und Ausblick verhindert. So freut es mich einerseits, nach 16,9 km in 1.827 m Höhe die wie aus dem Nichts auftauchende Verpflegungsstelle erreicht zu haben, doch ist der zugige Aufenthalt andererseits wenig gemütlich und die Aussicht, noch weiter in die Höhe steigen zu müssen, ebenso wenig motivierend.
Andererseits: Der starke Wind treibt die Wolken ebenso schnell dahin wie auch auseinander. Binnen Sekunden ändert sich das Sichtfeld, zum Guten wie zum Schlechten. Zu den erfreulichen Dingen gehört, dass sich der Wolkenschleier just lüftet, als ich nach weiterem steilen Anstieg die 1.947 bzw. 1.937 m hohen Doppelvulkane Deseada I und II erklommen habe. Ein besonderes Gefühl ist es, die höchsten Erhebungen der Cumbre Vieja erreicht zu haben, das Bestreben aber auch groß, möglichst schnell wieder ein Stück weit hinunter zu kommen.
Hinein führt der Weg in eine karge, geröllige Senke. Sanft gewellt steigen schwarz-braun die Hänge zu meiner Rechten an. Mitten durch die Flanke des Abhangs geht es leicht bergab dahin. Derart geschützt wird die Sicht sogleich deutlich stabiler. Mit Hochgeschwindigkeit sehe ich die Wolkenschwaden aber weiterhin über mich hinweg jagen.
Über schwarze Lava und feinen schwarzen Sand geht es jedoch schon kurz darauf höher und höher. Ein beschwerlicher Weg. Wir haben den bis in eine Höhe von 1.820 m aufragenden Duraznero erreicht, einen der optisch beeindruckendsten und am wildesten wirkenden Vulkane der Insel. Über den Cumbre-Kamm weiter empor kraxelnd offenbart sich ostwärts immer mehr von dessen finsteren Brachialität. Dunkle, zerrissene Lavaschlacken zeugen vom letzten Ausbruch im Jahr 1949. Im Rahmen der sogenannten San Juan-Eruption, bei der entlang eines etwa vier Kilometer langen Spaltensystems an drei Stellen im Kamm der Cumbre Vieja die Erde aufbrach, ist dieser Vulkan entstanden. Und wirkt auch heute noch so, als sei dies erst kürzlich geschehen. Wären da nicht die grünen Einsprengsel, die bezeugen, mit welcher Macht sich die Natur ihr Terrain rückerobert.
Nicht nur ich halte an der höchsten Stelle des Kammwegs inne und lasse das sich in einer Wolkenlücke bietende Spektakel auf mich wirken. Schon schließt sich der Wolkenvorhang wieder und die „Show“ verschwindet im Nichts. Vorbei an wettergebeugten, teils bizarr geformten Kiefern geht es weiter hinab. Kräftig bläst der Sturm uns wieder um die Ohren. So entgeht einem fast, dass wir den nächsten beeindruckenden Vulkan passieren: Den 1.751 m hohen Hoyo Negro. Gewaltig und furchteinflößend ist der Explosionskrater, der sich direkt neben dem Weg aufttut. Kein Wunder, dass man ihn – übersetzt – „Schwarzes Loch“ genannt hat. Der Hoyo Negro hat schon eine längere Historie, hat aber gleichfalls 1949 gezeigt, dass noch viel „Leben“ in ihm steckt. Solch beeindruckende Aus- und Einblicke sind es wert einen weiteren Stopp einzulegen.
Kräftige kalte Windstöße gemahnen mich aber, Abstand zu halten und weiter zu ziehen. Ein Weilchen bin ich noch voll dem über den Kamm jagenden Wolkenstrom ausgesetzt, aber zusehends geht es hinab in geschütztere Gefilde. Diesen Schutz bietet vor allem erneut der Kiefernwald. Ein dickes Nadelpolster bedeckt den sandigen Weg. Leicht bergab führend kann man es im entspannten Trab durch die grüne Natur dahin gehen lassen. Und dieser Trab führt mich direkt nach El Pilar.
Um kurz vor 14 Uhr erreiche ich nach 24,5 km La Palmas wohl bekannteste und beliebteste „Zona Recreativa“, auf 1.445 m üNN mitten im Wald. Halbzeit ist für die Läufer und ein gutes Gefühl vermittelt mir, schon 2.145 Höhenmeter bewältigt zu haben. Locker verteilt findet man hier, über eine Straße gut erreichbar, zahlreiche große, gemauerte Grillplätze, unzählige Bänke und Tische, dazu Sanitäreinrichtungen und Spielplätze. Ich habe schon erlebt, wie Menschenmassen gerade am Wochenende in der kühlen Höhe ein tagesfüllendes Happening feiern und der Qualm unzähliger Grills die gute Waldluft anreichert. Aber heute ist es eher ungemütlich frisch und daher ruhig. Den größten Zulauf gibt es am großen Verpflegungsposten, wo nun allerlei leckeres Obst und auch Sandwiches auf mich warten. Zugegebenermaßen ist der Cola-Kick aber am Verlockensten.
Bis 15 Uhr muss man es bis El Pilar geschafft haben, sonst schlägt der Cut Off zu. Froh bin ich, damit kein Problem zu haben.
Die nächste Etappe über 6,8 km ist eine vergleichsweise leichte. Der Reventon-Pass liegt unwesentlich niedriger als El Pilar, aber es kommen doch etwa 250 Höhenmeter rauf wie runter hinzu. Der Weg führt weiter entlang des GR131, aber nun über den Kamm der Cumbre Nueva. Diese bildet das Bindeglied zwischen der Cumbre Vieja im Süden und der Caldera de Taburiente im Norden. Ein besonderes Naturschauspiel kann man bisweilen erleben, wenn niedrige Wolken von Osten gegen die Cumbres drücken und an der vergleichsweise niedrigeren Cumbre Nueva wie ein Wasserfall herunter „fließen“ und sich dabei auflösen. Heute sind die Wolkenbänke jedoch „normal“ und hüllen den gesamten Kamm beider Cumbres ein.
Der Weg führt zumeist als schmaler Pfad durch einen schier undurchdringlichen Dschungel aus Gagelbäumen und Baumheide. Oft dringt kaum Licht durch den von den Pflanzen gebildeten Tunnel. Die Wolken tun ein Übriges, eine bisweilen mystische Stimmung zu schaffen. Sie sorgen auch dafür, dass Stämme und Äste häufig von Moos und Flechten bewachsen sind.
Erst nach ein paar Kilometern öffnet sich ab und an der Urwald und gibt den Blick gen Westen frei hinab in das in der Tiefe sonnenbeschienene Aridane-Tal und die noch fernen Hauptorte El Paso und Los Llanos. Zumindest erahnen kann man die Nähe der Caldera. Etwas ausgesetzter wird der Weg, felsiger die Umgebung. Aber bevor es richtig losgeht, tauchen nach 31,3 km einmal mehr die Baldachine der nächsten Verpflegung am Reventon-Pass auf. Highlight der Station ist die warme Brühe. Sie ist genau das Richtige für die weiterhin feucht-kühle Witterung.
Am Reventon-Pass trennen sich die Laufkurse der Ultra- und der Volcanes-Läufer. Während den Ultras, weiterhin der Cumbre Nueva folgend, noch die große Runde um die Caldera mit anschließendem satten 2.400-Höhenmeter-Downhill bevorsteht, geht es für uns vergleichsweise kommod und jetzt schon talwärts weiter. Wobei kommod nicht heißt: einfach.
Auf einem grob gepflasterten Weg geht es zunächst durch den Bergwald hinab. Der Weg wird zunehmend robuster und stürzt schließlich in schnellen steinigen Kehren in die Tiefe. Vielfach freien Blick hinab ins Tal haben wir und schnell rückt es näher. Doch auf der Zielgeraden sind wir damit noch längst nicht. Durch lichten und sonnendurchfluteten Kiefernwald geht es schließlich auf einem Höhenweg auf und ab dahin. Der Wind ist weg und ich merke, wie schweißtreibend die pralle Sonne nun wieder brennt.
Auf dem Weg bietet sich ein Fernblick in die Richtung La Cumbecita, dem wohl bekanntesten und am einfachsten auch mobil erreichbaren Aussichtspunkt ins Kraterrund der Caldera, sowie die Kraterwände im Hintergrund. Feststellen darf ich: Ein paar Wolken sind im Krater, aber der obere Kraterrand ist wolkenfrei: Erfreulich für die Ultraläufer. Wir bleiben auf Waldkurs, der durchaus ein paar spannende felsige Stellen zu bieten hat, und queren schließlich die Zufahrtsstraße zur La Cumbrecita.
Jenseits der Straße laufen wir direkt auf eine senkrechte Felswand zu. Ich ahne schon, was kommt. Seitlich steigen wir einen extrem steilen Steig durch den Wald empor, höher und höher. Aus dem Pfad wird ein gerölliger Forstweg und einmal mehr sehr plötzlich lädt nach 37,8 km bei El Barrial auf 1.111 m üNN eine letzte Streckenverpflegung zur kurzen Pause ein. Die letzte Etappe steht bevor: Auf den finalen 10,2 Kilometern geht es nur noch 150 Meter hinauf, aber satte 920 Meter hinunter.
Eigentlich dachte ich mir, mit den kleineren Steigungen, die die Pfade und Forstwege durch den Wald bereithalten, sei das Anstiegskontingent bereits ausgeschöpft. Doch nochmals zwingt eine lange deftige Steigung zum Keuchen und heftigem Schwitzen. Durch Wald und goldgelbe Trockenwiesen fließt der Pfad aber nun dahin, teilweise mäuerchengesäumt, aber stets außerhalb der Zivilisation. Schon von weitem höre ich Geräuschkulisse aus dem Ziel durch die Landschaft schallen. Aber der Weg zieht und zieht sich, auch wenn Los Llanos im gleißenden Sonnenlicht schon deutlich auszumachen ist. Quasi durch die Hintertür werden wir in den Ort gelotst. Über kleine, einsame Sträßchen quere ich den Vorort Retamal und gelange von dort in die hinteren Altstadtgassen der „City“. Das Ziel ist schon zum Greifen nah, doch müssen wir noch eine letzte Schleife im Ort drehen, um von der richtigen Seite den Zielkanal anzusteuern.
Dann ist es so weit: Gesäumt von dicht an dicht entlang der Absperrgitter harrenden, Beifall klatschenden Zuschauern eile ich die letzten Meter über den langen roten Teppich, begrüßt von zwei unermüdlich Begeisterung ausstrahlenden Zielmoderatoren, unter dem flackernden Zielbogen hindurch.
Geschafft! Erschöpft bin ich, glücklich, diesen harten Trail bewältigt zu haben, vor allem aber überwältigt von dem ungemein intensiven Lauferlebnis. Jeder der permanent eintröpfelnden Ultra- und Volcanes-Läufer darf sich über einen begeisternden Empfang freuen. Medaillenbehängt entspanne ich kurz im Bereich der Zielversorgung, ehe ich mich außerhalb der Absperrungen in die große „Party“ rundum stürze und mir als erstes ein kühles Bier am Kiosco organisiere.
Schier unzählig ist die Zahl Menschen, die die Plaza und die umliegenden Gassen bevölkern. Live-Musik ertönt von einer Bühne, Sound aus der Konserve aus so manchem Lokal. Es gibt kaum ein Durchkommen. Der Lärm und die Stimmung sind ohrenbetäubend wie unglaublich. Gefeiert wird hier schon seit Stunden und noch bis tief in die laue Nacht. Ausnahmezustand herrscht in Los Llanos.
Diese Feststimmung belegt sehr deutlich, mit welcher Euphorie der „Transvulcania“ von der Bevölkerung mitgetragen wird. Das ist nicht irgendein Lauf, sondern ein Top-Event der Insel. Ein Volksfest. Eine wahrlich wunderbare Veranstaltung auf einer wunderbaren Insel liegt hinter mir. Und glücklich bin ich, ein Teil davon gewesen zu sein.