Kurz bevor ich um Mitternacht den Startbogen passiere, höre ich, wie uns ein guter Lauf gewünscht wird, den wir genießen sollen. Das spanische Wort für genießen, disfrutar, fand ich schon immer speziell, weil ich immer das Wort Frucht darin höre. Dann will ich mal schauen, wie mir dieses Früchtchen munden wird. Auf der sanft ansteigenden Straße zieht sich das Feld schnell in die Länge. Unser nächtliches Laufen lässt die Hunde der Fincas ihre Bewachungsaufgaben wahrnehmen, ihr Bellen wandert einer Stafette gleich mit der Läuferschar durch das Tal und unsere lange winterliche Dumpfheit gewöhnten Nasen werden vom süßen Duft der Orangenblüten in den Gärten verwöhnt.
Diese erste ist mit 18,7km auch die längste Etappe des heutigen Tages und die mit den meisten Höhenmetern. Bevor es über teilweise wegloses, grasiges und felsiges Gelände zum „Holzschuh“ geht, wobei der Gipfel des s’Esclops nicht ganz bestiegen wird, gibt es einen Zwischenabstieg. Der Lichterwurm der Stirnlampen hinter mir und besonders vor mir ist eine eindrückliche Erscheinung. Mich fasziniert, wie weit sich die Spitze schon entfernt hat und durch das in Wanderführern nur gut geübten, trittsicheren Wanderern empfohlene Gelände prescht. Irgendwo dort oben geht der Reigen der Lampen nahtlos über in das Leuchten der Sterne.
Ich schließe Bekanntschaft mit der mallorquinischen Vegetation und bin dankbar dafür, dass nur ein Streifen Haut über dem Knie ungeschützt ist. Die harten, scharfkantigen Gräser und zähen Zweige der Sträucher stellen sich den sie durchschreitenden Beinen unerbittlich in den Weg und die unregelmäßige Form der Steine und Felsen sorgen dafür, dass beim Auffangen des Stolperns auch viele Hände von Mitstreitern mit ihnen Bekanntschaft schließen. Stellenweise ist es für mich, glaube ich, vorteilhaft, dass wir nachts unterwegs sind und ich nicht sehe, wie es neben dem technischen Geläuf abfallend ist.
Wie immer wenn ich nachts unterwegs bin, habe ich kein Gefühl für Zeit und Distanz, erst der kurze Abschnitt auf der Küstenstraße gibt mir einen Anhaltspunkt, dass das erste Zwischenziel Estellencs nicht mehr weit entfernt ist. Dieses Stück kann ich ohne Lampe im Mondschein laufen, bevor er kurz darauf im Westen hinter der Wasserlinie verschwindet. Ein Getränkeautomat am Straßenrand zeigt die Uhrzeit an, gemäß welcher ich gut innerhalb des Zeitlimits unterwegs bin. Genauso wichtig wie die Marschtabelle ist die Tatsache, dass meine Muskulatur bisher klaglos mitmacht.
Den freundlichen Helfern am Verpflegungsposten muss man nur Trinkbecher, -flasche oder –blase hinhalten und es wird mit Wasser, Cola oder Iso aufgefüllt so viel man will. Nebenan gibt es Bananen, Orangen und jede Menge Kekse und Schokolade. Ich halte meinen Aufenthalt kurz und nehme ein Polster von 30 Minuten auf die nächste Etappe.
Die Strecke ist hervorragend markiert. Die Fähnchen und Flatterbänder sind mit stark reflektierenden Aufklebern versehen. Je nach Wind bewegen sich diese Lichtpunkte wie Elfen oder vollführen Irrwischen gleich einen wilden Tanz. Ansonsten ist die Ruhe der Nacht um mich herum. L’illa de la calma“, „Insel der Ruhe“ heißt der katalanische Bestseller von Santiago Rusinol:
„Wenn Neurasthenie (chronische Erschöpfung) dich heimsucht oder du ihr nahe bist, wenn der Lärm der Zivilisation dich betäubt, wenn die rastlose Eile dich ermüdet, die uns ständig antreibt noch schneller an Orte zu gelangen, an denen wir eigentlich nichts verloren haben, (…) dann folge mir zu einer Insel, die ich dir weisen will, zu einer Insel, auf der stets Ruhe herrscht, wo die Männer nie in Eile sind, wo die Frauen nie alt werden, wo man nichts, nicht einmal Worte vergeudet, wo die Sonne bisweilen am Himmel innehält, wo selbst Frau Mond langsamer wandelt (…). Diese Insel, lieber Leser, ist Mallorca.“
Die 521 Höhenmeter dieses Abschnitts sind auf über 17 Kilometer verteilt und die meisten davon schon abgehakt, wenn man die nächste Ortschaft durchläuft. Eine der berühmten Sehenswürdigkeiten Mallorcas steht ein wenig außerhalb von Banyabulfar, der Torre des Verger, der Obstgarten-Turm aus dem Jahre 1579 zur Abwehr von Piraten, und muss bei anderer Gelegenheit besichtigt werden.
Von der Felswand neben und über uns widerhallt die Brandung des Meeres, dem wir uns mehr und mehr nähern. Bevor der zweite Verpflegungsposten angelaufen wird, geht es bei Port des Canonge hinab zum Strand, kein Sandstrand, sondern der Charakteristik des ganzen Trails entsprechend aus groben Steinen.
Im Dorf, kurz vor der Verpflegung, lässt sich ein Hahn zur Tageszeit verlauten. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich gut unterwegs bin und nochmals einige Minuten zum Zeitpuffer hinzufügen kann. Mit Jens und Julia laufe ich weiter in den bald anbrechenden Tag. Noch ist es aber dunkel und der Weg hält ein paar Überraschungen bereit. Unter der Schirmmütze bleibt der Ast über dem Weg meinem Blick verborgen, mit der Folge, dass mich ein heftiger Schlag stoppt und mir die Lampe vom Kopf hebelt. Ich klaube das Ding vom Boden und versuche es in Position zu bringen, mit der Wirkung, dass ich durch die Ablenkung zwei weitere Baumhindernisse nicht rechtzeitig bemerke und mir noch einmal den Kopf und den Ellbogen anstoße. Wenigstens sieht es belustigend aus, Jens meint, dass mein Torkeln schon fast die Slapstick-Qualität von Laurel und Hardy erreicht. Volle Konzentration ist kurz darauf angesagt, denn der Trail besteht für einige Meter aus zwanzig Zentimetern Rand einer Mauer. Auf einer Seite geht es runter, auf der anderen Seite ist ein Zaun, an welchem ich mich entlanghangle.
Ich bin kein Morgenläufer, doch in einen anbrechenden Tag hineinzulaufen ist ein anderes und immer wieder besonderes Erlebnis. Ein Vogelkonzert untermalt den langsamen Wechsel von dunkel zu hell und begleitet mich zum dritten Zwischenziel. Mit Anbruch des Tages überschreite ich auch die Grenze vom Marathon zum Ultra. Von Westen her nähern wir uns Valldemossa, und müssen uns noch gedulden, bis wir diesen Ort ansatzweise von seiner Postkartenseite sehen werden. Es muss ein anderes Valldemossa gewesen sein, das 1838 Frédéric Chopin anlässlich seines Winteraufenthaltes in der Kartause zu zwei Nocturnes inspiriert haben muss. In den vergangenen 25 Stunden konnte ich zwar nur eine Stunde schlafen, doch ich fühle mich nicht nächtlich, sondern morgendlich frisch und bin bereit zu weiteren Kilometern. Nach dem Beanspruchen der wiederum bestens bestückten Verpflegungsstation beim Sportplatz machen sich René und ich auf – auf dem letzten Teilstück waren wir plötzlich wieder auf gleicher Höhe – und nehmen eine gute Stunde Zeitreserve mit.