Zehn Minuten nach uns starten die Läufer des Trails zu ihren 63km in der Serra de Tramuntana. Eine kurzfristige Streckenänderung wegen Schwierigkeiten mit einem Privatgrundbesitzer führt uns nicht direkt auf den Weg des Erzherzogs. Dadurch ist die Steigung von etwa 500 Metern gleichmäßiger, die Strecke dafür um rund drei Kilometer länger. Es dauert nicht lange und das Feld des Trails stürzt heran. 1000 Teilnehmer sind es und dieses Limit war bereits vier Wochen nach Öffnung der Anmeldungen erreicht. Ich habe den Eindruck, dass Trailläufer über diese Distanzen in unseren Breitegraden eher eine Angelegenheit älterer Sportler sind, hier jedoch tummelt sich eine große Zahl von Jungen – auch auffallend viele Damen.
Mit zunehmender Höhe wird der Weg, eine schmale Geröllpiste, mehr und mehr von der Sonne beschienen. Dass uns nicht zu warm wird, dafür sorgt der auffrischende Wind. Einen Kontrollpunkt für die Ultras gibt es vor dem Abstieg. Drei als Cowboys kostümierte Helfer übernehmen diese Aufgabe mit viel Freude an ihrem Auftritt.
Zuerst geht es über ein Felsband hinunter nach Dejà. Das nächste Etappenziel liegt in greifbarer horizontaler Distanz, allerdings gibt es da noch eine vertikale Herausforderung. Allein der Blick hinunter veranlasst die Oberschenkel, sich zusammenzuziehen und Feuer zu fangen. In schier endlosen Serpentinen geht es auf einem schmalen steinigen Weg einen Steineichenwald hinab, der trotzdem junge Läufer mit roter Startnummer des Trails nicht von Kamikaze-Überholmanövern abhält. Ein Knirschen deutet dann und wann an, dass hinten oder vorne die Bodenhaftung überschätzt wird. Ich bin dafür so mit einem sicheren, ökonomischen Abstieg beschäftigt, dass ich wieder einen Ast oberhalb der Schirmmütze übersehe und mir dieser einen weiteren kräftigen Schlag an die Birne verpasst. „Disfrutar“. Ja, dieses Früchtchen genieße ich, auch wenn es mir die Birne schon mehrmals kräftig verschlagen hat.
Gegen Dejà zu wird es wieder flacher und der Weg führt durch Olivenhaine, alte, verfallene Terrassierungen und viel Grün. In der Ortschaft ist auf einem Parkplatz wieder ein Verpflegungsposten eingerichtet, an welchem auch Reis- und Teigwarensalat und Sandwiches angeboten werden. Zu meinem und ein paar anderer Leute Leidwesen ist bei all dem in iberischer Manier Schinken daruntergemischt. Meine Nachfrage nach Pasta ohne Fleisch bleibt erfolglos. Eine spanische Läuferin geht da energischer zur Sache und verhilft damit auch mir zu einer Portion nackter Nudeln mit Karotten und Mais.
Nach ausführlicher Verpflegung widme ich mich dem Auftragen des Sonnenschutzes für die zweite Streckenhälfte – ohne daran zu glauben, dass ich bei Sonnenschein, geschweige denn Tageslicht ins Ziel kommen werde. Mit einem Zeitpolster von einer Stunde machen sich René und ich auf zu neuen Entdeckungen. Bis nach Sóller sind es nur 8,7 km, und die 255 Höhenmeter sind gleichmäßig verteilt. Orangen- und Zitronenbäume, knorrige Olivenbäume mit unglaublich zerfurchten Stämmen aus welchen junge Triebe wachsen, säumen unseren Weg, am Boden liegen Schoten der Johannisbrotbäume und immer wieder kommt eine Finca in Blickfeld, die eher zur Wertanlage und als Statussymbol dient denn zum Wohnen.
Langsam aber sicher meldet sich die eine Fußsohle mit dem Gefühl, sie ginge über glühende Kohlen. Ich bin im Vorfeld gewarnt worden, dass die vielen groben Steine ihren Tribut fordern werden, und bin deshalb weder überrascht noch erstaunt. Abgesehen davon fühle ich mich erstaunlich fit. Von Müdigkeit spüre ich keine Spur.
In Sóller geht es kreuz und quer durchs Städtchen, beachtet werden wir Läufer kaum. Im Gegenteil, auf der Plaza ist Markt und vermutlich irgendeine Fira - eines jener Feste, von welchen es in Mallorca so viel gibt, weil der Bürgermeister dann zusätzliche arbeitsfreie Tage verordnen kann – und die Leute stehen und gehen kreuz und quer und zwingen uns zu kleinen Slalomeinlagen.
Die Verpflegungsstation lässt nichts zu wünschen übrig, es ist so, dass ich meinen Rucksack leichter hätte packen können. Aber was soll’s? An diesem unnötigen Gewicht scheitert das Unternehmen nicht, dessen bin ich mir sicher und mit mittlerweile 75 Minuten verfüge ich über ein beruhigendes Zeitpolster.
Bis nach Cúber sind es überschaubare 9,5 km, nicht viel, dafür gespickt mit 842 Höhenmetern. Es seien die härtesten des ganzen Ultras, hat mir ein Wiederholungstäter im Verlauf des Morgens in Aussicht gestellt. Die Herausforderung ist nicht die Steigung an sich, es sind die groben Steine des gestuften Weges. Dafür gibt es wieder Interessantes zu sehen. Ausgetrocknetes Bachbett aus ausgewaschenen Steinen, riesige Aussinterungen aus den Felswänden heraus und während langer Zeit einen tollen Blick zurück nach Sóller und weiter bis zum Meer.
Beim Erreichen des Kulminationspunktes ist gut die Hälfte dieser Etappe zurückgelegt und das nächste Ziel ist schon in Sicht, der Embassament de Cúber, einer der zwei Trinkwasser-Stauseen in der Serra de Tramuntana. Die Kilometer ziehen sich dahin, für eine Weile muss ich dafür weniger Konzentration dafür aufwenden, wohin ich meinen Fuß aufsetze. Pferde, ein Maultier, ein Esel, Schafe bevölkern die Landschaft entlang der Strecke, auf welcher sich wieder Sonnenschein breit macht. Kurz nach dem nördlichen Ende des Sees steht die nächste Kontroll- und Verpflegungsstelle, an welcher auch die Vegetarier hemmungslos in die Kiste mit dem Pastasalat greifen können.
Während des Essens habe ich von der Sitzbank aus eine ungehinderte Aussicht auf den höchsten Berg Mallorcas, den Puig Mayor (ausgesprochen wird Puig wie „Butsch“). Von seiner ursprünglichen Höhe hat er in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein paar Meter eingebüßt, denn den Militärs erschien er als Standort für weitreichende Luftüberwachung geeignet. Damit die Gebäulichkeiten Platz finden konnten, mussten der Gipfel abgetragen und eingeebnet werden. Eine Radarkuppel und zwei Antennenmasten (verun-)zieren ihn seither und lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, welcher der Gipfel der Puig Mayor ist. Die Mallorquiner waren in der Benennung ihrer Berge sehr bescheiden, denn Puig ist nicht das Wort für Gipfel oder Berg, sondern ganz schlicht für Hügel.
René trifft nach mir bei der Verpflegung ein und eröffnet mir, dass er aussteigt, da ihn Blasen an den Füßen plagen. In meinen Schuhen lodert es auch, doch nach 74 Kilometern denke ich deswegen nicht ans Aufgeben, denn es stehen nur noch zwei Etappen bevor.