Bei strahlendem Sonnenschein nehme ich die erste davon in Angriff und werde mit schönen Ausblicken, unter anderem auf den zweiten Speichersee, den Embassament des Gorg Blau, dafür entschädigt, ja geradezu verwöhnt. Noch ein großer Aufstieg steht an, der zum höchsten Punkt der Strecke, dem Col des Prat. Auf dem Pass erwarten uns Spiderman und eine Kontrollstelle der Zeitnahme, dann geht es im gleichen Stil runter wie wir eben hochgekommen sind. Dazu kommt noch ein recht kühler Wind. Diesem können wir nicht ausweichen, doch ein erneuter Anstieg sorgt für automatische Körpererwärmung. Außer uns Läufern ist weit und breit kein Lebewesen zu sehen, bis auf zwei verwilderte Ziegen, denen es hier oben zu gefallen scheint. Auch mir gefällt es, denn abgesehen von ermüdeten Muskeln und den schon erwähnten brennenden Füßen geht es mir besser als ich zu hoffen gewagt habe. Wäre der Zieleinlauf schon in Lluc, hätte ich nichts dagegen einzuwenden, aber auch so ist es für mich kein Unglück. Ich freue mich so sehr, dass ich wieder unterwegs sein kann, dazu so lange und in einer mir bisher nicht bekannten, faszinierenden Gegend. Die Berge rauben mir zwar die körperlichen Kräfte, in gleichem Stil erhöhen sie mein sonstiges Wohlbefinden.
Im kleinen Flecken Lluc, ist die letzte Verpflegungsstelle. „Benvingut a Lluc“ und steht in Katalanisch zum Empfang auf großen Lettern auf der Außenwand des weitläufigen Hofes, willkommen in Lluc, dazu „La pau sigui amb tu“ – für aus der Fremde Angereiste auch in verschiedenen anderen Sprachen. Friede sei mit Euch.
Das Santuari de Santa Maria de Lluc ist Wallfahrtsort und wird als spirituelles Zentrum Mallorcas bezeichnet. Im Unterschied zu einem Kloster wird es nicht von Mönchen bewohnt, sondern von Patres geführt. Die Renaissance-Kirche aus dem 17. Jahrhundert wurde um die vorletzte Jahrhundertwende barock ausgestaltet, Berater war kein Geringerer als Antoni Gaudí.
Der Name des Ortes geht auf das lateinische „lucus“ zurück und bedeutet „heiliger Wald“. Der Natur wird im Santuari ein großer Stellenwert beigemessen:
„Die Natur spricht von Leben und Tod, von Wachstum und Zerfall, und sie spricht von den Frauen und Männern, die an diesem Ort verweilen, Sogar die Felsen halten eine Botschaft bereit, wenn man sie reden ließe. Die Landschaft strahlt Gelassenheit, Lebenskraft und Erhabenheit aus. Jeder findet hier, was ihm nottut, sofern er versteht zu hören und aufzunehmen.“
Über dem Altar in der Kirche steht der Titel des Berichts, Worte aus dem Psalm 87: FVNDAMENTA EIVS IN MONTIBVS SANCTIS – „Ihre Fundamente liegen auf den heiligen Hügeln“. Auch wenn im Psalm die Stadt Gottes gemeint ist, deren Fundamente dort liegen, bezieht sich die Wahl dieses Spruchs auch auf die Verwurzelung mit den Hügeln der Gegend.
Solche Touren, ob auf offiziellen Pilgerpfaden hoch und runter oder auf irgendwelchen andern Wander- und sonstigen Wegen, sind mein Elixier für den Alltag und die zitierten Sätze drücken aus, was sie für mich bedeuten.
Erfüllt, glücklich und gleichzeitig hundemüde nehme ich mit immer noch mehr als einer Stunde Puffer die letzte Etappe in Angriff. An den vom Abendlicht beleuchteten Tränken der ursprünglichen Herberge vorbei geht es hinaus dem Ziel entgegen. Bizarre, ausgewaschene Felsformationen säumen den Weg und treiben mit meiner Müdigkeit ihren Schabernack. Die Ruhebank mit dem sich aneinander lehnenden Pärchen ist nichts anderes als ein steinernes Trugbild. Nach den letzten 200 Höhenmetern ziehen sich die verbleibenden Kilometer schier endlos dahin. Die Stirnlampe muss wieder leuchten, damit ich den Untergrund besser sehen kann als es mir gelingt, die restliche Strecke zu schätzen. Irgendwann sehe ich dann ein Schild, welches verkündet, dass es noch vier Kilometer bis zum Ziel sind, einen mehr als vermutet. Auf dem Straßenabschnitt laufe ich im Mondlicht und bin erstaunt, dass ich der einzige bin, dem diese Ausleuchtung reicht und die anderen darauf verzichten, ihre nächtliche Umgebung auf diese Weise besser wahrzunehmen.
Drei weiter Schilder müssten jetzt noch kommen. Eines vermisse ich und bin dafür erstaunt, dass es plötzlich nur noch ein Kilometer bis zum Ziel ist. Auf den letzten 500 Metern kommen alle Emotionen in mir hoch und geben mir einen solchen Schub, dass ich richtig durch die Gassen der Stadt fliege, wie wenn ich erst mit Laufen angefangen hätte. Der anerkennende Applaus der Zuschauer trägt mich ins Ziel, 1:28:58 vor Zielschluss.
Mit einer schön gearbeiteten Medaille wird meine Leistung gewürdigt und geschmückt, vorgesehen ist auch, dass sie schön eingekleidet wird. Doch da erlebt meine Euphorie einen Dämpfer: Die bei der Anmeldung bestellte Größe, in welcher ich eine tolle Finisher-Weste in Empfang nehmen dürfte, ist nicht mehr vorrätig, weil sich die Helfer zuvor so häufig auf Umtausche von falsch bestellten Größen eingelassen haben, so dass wir Spätankommenden das Nachsehen haben. Ich habe in den vergangenen Monaten zwar zugelegt, aber XL sieht an mir dann doch eher wie ein Zelt aus. Ein Spanier haut deswegen ordentlich auf den Putz. Da wird ihm beschieden, dass er eine Mail an die Orga schicken soll, dann werde ihm seine bestellte Größe zugeschickt. Er legt sich für mich ins Zeug und lässt sich bestätigen, dass dies für alle gilt, die das Nachsehen haben.
Fehler können geschehen. Entscheidend ist, wie mit deren Behebung umgegangen wird. Wenn ich tastsächlich meine Weste noch erhalte – und ich stehe dazu, dass ich sie mit Stolz tragen werde – dann gibt es keinen Grund etwas Schlechtes von dieser Veranstaltung zu berichten. Die Langdistanz war erst zu 60% gebucht und ist damit wirklich eine Option für Trailläufer aus unseren Breitegraden, die nicht warten mögen, bis der Bergfrühling die Wege in den Alpen endlich frei gibt. Wenn der Informationsfluss in Deutsch und Englisch noch verbessert wird und (wichtige) Informationen nicht nur über Facebook zugänglich gemacht werden, gibt es keinen Hinderungsgrund, im April in den Hügeln der Serra de Tramuntana am konditionellen Fundament für die sommerlichen Berg-Ultras zu arbeiten und dabei alles Mögliche sonst noch zu tanken und aufzusaugen.
Das Alkoholfreie, welches mir der Restaurantbesitzer bringen lässt, saug ich ebenfalls schnell auf, dann mache ich mich auf die glühenden Socken, um mich nach einer heißen Dusche im Hotel ins Bett fallen zu lassen. Nach 43 Stunden mit nur einer Stunde Schlaf, dafür 110 Kilometern und 4300 Höhenmetern auf steinigen Wegen, fallen mir die Augen augenblicklich zu. Das Träumen vom nächsten Mal kann beginnen.
18.04.15 | Der Ultratrail auf Mallorca |
Nicola Wahl |