Ich habe einen 36 Stunden-Tag. Und wenn das nicht reicht, dann schreibe ich nachts noch Laufberichte.
70 Kilometer südlich von Marrakesch, im Hohen Atlas, ist der Start des Ultra Trail Atlas Toubkal UTAT, im wohl originellste Skiort der Welt, in Oukaimeden mit 20 km Piste und einem neuen Doppelmayr-Lift. Am Ortsanfang befindet sich ein kleiner Stausee, dahinter fängt die baum-und buschloses Hochebene (2700 m) an, auf der einige Schafe und Ziegen weiden. Dort ist unser Basiscamp, eine beeindruckende Zeltlandschaft. Es gibt in dem Tal einige Felsgravuren, die älteste datiert man auf 6000 v. Chr., wir sind also nicht die Ersten.
Wer nicht in Zelten schlafen will, kann im Club Alpin Francais (CAF) übernachten. Das ist ein bunkerähnliches Haus und passt sich den hässlichen Betonbauten des Ortes an. Es gibt in dem Ort zwei Garagen-Restaurants, ein Hotel, zwei geschlossene Skiverleihe und keinen Supermarkt. Wir Deutschsprachigen sind die größte Gruppe nach den Franzosen. Am Freitag sind Spaziergänge zur Anpassung angesagt.
Samstag 01.10. 4 Uhr - Der Tag fängt beschissen an: Eine große Jagdspinne belagert unser Zimmer und vier gestandene Ultraläufer diskutieren, wer die Aufgabe übernehmen soll. Ich muss mich auf meinen Lauf konzentrieren, Oliver erkärt sich also bereit: „Hau drauf! Hau drauf“, er metzelt das Monster, bis zerquetschte Beine durch den Raum fliegen.
Im Restaurantzelt fallen die Heizstrahler aus, der Kaffee schmeckt eindeutig nach Chlor. Glücklicherweise spricht mich niemand an. Das nervig „Ca va?“ unterbinde ich mit einer Handbewegung.
Wartesaal für den Lauf ist ein großes Zelt. Es ist schweinekalt. Dann öffnet sich die Plane und wir begeben uns an die Schlachtlinie. In Marokko wird ausgeblutet.
105 Kilometer, 6500 Höhenmeter und Verpflegungsautonomie, unheimliche Einsamkeit und brutale Temperaturunterschiede von 0 bis 35 Grad stehen mir bevor. Wir sind 70 Ultras und ca 200 Marathonläufer, die kurz nach 6 Uhr loslaufen. Etwa 6 kg habe ich auf dem Rücken. Ich kenne den Hohen Atlas, ohne warme Kleidung stirbt man. Wir haben Teelichter, die nutzt man, wenn man sich im Extremfall unter die Goldfolie hockt. Das Grablicht vrschönert dann das Sterben.
Wer jedes Wochenende Nudeln und Gels essen muss, der hat neue Ideen: Ferrero Rocher, Holundersirup mit Brausetabletten, Kinderschoko, TomTom und polnische Sahnebonbons, Thunfisch, Ölsardinen und Schwarzbrot habe ich eingepackt.
Die ersten Kilometer im mit Raureif bedeckten Hochtal sind leicht abfallend, dann beginnt der Aufstieg zum Tizi Agouns, 3100 m (km 11). Tizi bedeutet in der Berbersprache Tamazight eigentlich „Bergweide“, wird aber mittlerweile für Pässe verwendet. Da Berge für das Überleben der Nomaden keine Bedeutung haben, tragen diese auch keine Namen. Die Europäer bezeichnen deshalb mit Tizi auch die Berge, die oberhalb der Bergweiden liegen.
Auf der Höhe von Tizi Tisrafene, ist die erste Kontrollstation, PC (point controle). Nun geht es acht Kilometer und 700 Höhenmeter in scharfen Kehren bergab in das Dorf Agouns (2350m).
Irgendein idiotischer Vorläufer hat Luftballons verteilt, jetzt stehen die verkrusteten Knaben mit geplatzten Luftballons am Streckenrand und betteln mich an „Ballon, Ballon!“ Ein anderer Vorläufer hat Kugelschreiber verteilt: „ Bonjour Stilo! Bonjour Stilo!“ Etwas weiter kratzen Kinder mit Steinen auf neuen Schiefertafeln rum. Ja klar, meine Vorläufer hatten noch eine romantische Vorstellung von den Bergbewohnern, mir dagegen versucht man nun die Colaflaschen zu klauen. „Never feed the pigeons!“
Ich bin froh, dass wir 105 km-Läufer nun einen anderen Weg einschlagen. Die Marathonläufer laufen Richtung Tinoummar und durch viele kleine müllverseuchte Terrassendörfer, wie Tiourdipu und Anfli, die pittoresk am Hang kleben. Plastikschläuche von Wassereis bilden den Hauptmüll, Schokoverpackung und Zigarettenschachteln.
Es geht hinauf zum Jabrassene (3143). Das ist neu, steht nicht so im Höhenprofil und sind mindestens 10 Kilometer und 800 Höhenmeter mehr als in der Ausschreibung. Die beiden Schweizer überholen mich. Na klar, die kommen aus den Bergen.
Zwei Stunden später, in Jabrassene (Ort) kommen mir die Marathonläufer entgegen, sie haben den zweiten PC (km 20) schon hinter sich. Der jetzige Weg ist wundervoll, klebt an einem steilen, sonnigen Hang. Eine Stunde später erreiche auch ich den zweiten PC, der sich in der Gite d`Etappe (Etappenherberge) Timichi befindet. Ich habe jetzt 32 Kilometer auf dem Tacho, laut Ausschreibung aber nur 20 Kilometer. Also akzeptiere ich 20. Ich habe das Gefühl, ich bin Letzter, doch die Liste zeigt an, daß über 20 Läufer noch fehlen.
Erst im Mai beim Trans Atlas Marathon habe ich Wiedersehen mit dem Wirt gefeiert, jetzt wiederholen wir das bei einer Cola. Es gibt zwar ein wenig Verpflegung, aber das Trockenobst geht nicht an mich. Für mich geht es weiter auf der im Mai gelaufenen Strecke über Tadrart bis zum dritten PC oberhalb von Setti Fatma ( km 31). Die Markierungen des Trans Atlas sind ausgebleicht und werden bald verschwunden sein.
Einige Läufer werden am PC 3 schon ärztlich versorgt, für zwei wird der Rücktransport organisiert. Setti Fatma liegt etwa 5 Kilometer unter uns, ist ein wundervoller kleiner Wochenend-Ort. Man sitzt abends in Plüschsesseln auf kleinen Inselchen inmitten des Flußes. Zu dem Fluß steigen wir nun hinab, es ist der Ourika, der hier sehr wild ist und in mehreren Wasserfällen nach Setti Fatma fließt. Er entspringt am Toubkal, speisst sich dort in den Schneefeldern und versickert vor Marrakesch in der Ebene.
Romantik kann nicht aufkommen, der nächste PC liegt in 38 Kilometer Entfernung, Wasser gibt es nur aus Bächen, deswegen gehören Micropurtabletten zur Pflichtausrüstung. Vor vier Jahren gab es noch keine Brücke über den Ourika, ich hatte damals bei der Flußdurchquerung eine Wasserflasche verloren. Nun hat man auch einen Weg hinauf zum Tizi N´Tamatert in 2500 Meter Höhe gebaut, wir nutzen dennoch den alten und steileren Maultierpfad. Auch den Tizi N´Tamatert habe ich im Mai überquert, daher weiß ich, daß es bis Imlil (km 88) über das Mizane-Tal bequeme 8 Stunden wären.
Wir aber nehmen das übernächste Tal hinunter, zunächst nach Azib (= Viehhütte) Assaka (2000m) . Im Hintergrund nun das Yagour Plateau, die riesige Begräbnisstelle, die seit 3000 Jahren genutzt wird. Ich hatte im Mai über das Gräberfeld berichtet. Dort ist man dem Himmel nahe.
In einer Kurve sehe ich eine Menschenansammlung, in der Mitte ein altes Mofa, auf dem Gepäckträger ein tropfender Karton mit glitzerndem Eis. Darin, ich glaub es nicht: Sardinen, frische Sardinen. Das muss ich fotografieren. Doch die zwei alten Weiber, die gerade am Verhandeln sind, kreischen, als würde ich sie antanzen. Also mache ich eine weitausladende Bewegung, damit sie aus dem Bild verschwinden. Der Fischverkäufer und die Jungs, die die toten Tiere betrachten, lachen laut auf. „Dirham, Dirham“ schreit die eine Walküre und hält fünf Finger hoch. Da muss auch ich lachen und tippe mir demonstrativ an die Stirn und bin h froh, dass die Alten nicht auf dem Bild sind.
Die wandelnden Büsche sind Mädchen, die mit tief gebeugtem Rücken geschnittenes Viehfutter transportieren. Meist sieht man nur zwei Beine in wollnen Strümpfen. Ich habe mir gerade eine Bierdose aufgemacht, da bettelt mich die Ältere an. Sie wird um die 16 Jahre sein, und greift nach der Dose: „ Hunger! Hunger!“ quakt sie auf französisch. Abgesehen davon, daß ich moslemischen Kindern keinen Alkohol gebe, brauche ich das Bier selber! Solche Begegnungen sind immer seltsam. Vielleicht wusste sie auch nicht, was Bier ist. Jedenfalls wird sie nie begreifen, warum wir diesen Scheiß machen.
Knorrige, ur-uralte Wacholderbäume (Genèvrier, Juniper) krallen sich in die Felsen.Eine Sandrennnatter flüchtet vor mir. Diese dünnen, gestreiften 120 cm langen Tiere sind recht häufig, flüchten aber augenblicklich. Sie können Menschen nicht gefährlich werden, ihre Giftzähne sind zu weit hinten.
Immer wieder blicke ich den Weg zurück. Es ist so irreal, dass ich hier laufe. Es ist so irreal, was für ein Programm ich abziehe. Ich hatte eigentlich eine andere Lebensplanung, schaue nun auf diese grandiose Landschaft, diese majestätischen Berge und bin froh, kein Pauschalurlauber im Riad in Marrakesch zu sein. „Och, es ist so schön in Marrakesch, das ist doch wie 1001 Nacht!“ Dabei ist das Buch „1001 Nacht“ die arabischen Version der Feuchtgebiete. Mit Literatur hat das nichts zu tun, es geht um Mord an Jungfrauen.
Traditionell verkaufen die Einheimischen hier am Tizi Amenzel (3010 m) Getränke für uns Läufer. Sie haben kohlrabenschwarze Hände, es ist Erntezeit für Walnüsse. Per WhatsApp werden neue Colaflaschen geordert, vor vier Jahren wurde das Dorf Amenzel (2350 m) an das Stromnetz angeschlossen. Es ist das höchstgelegene Dorf des Hohen Atlas und trotzdem voller Leben. Der Fußballplatz, auf dem ich vor vier Jahren ein Tor geschoßen hatte („Alemania gut!“), ist von einer Steinlawine bedeckt. Die 20, 25 flachen Dächer des Ortes schützen niemals vor den Steinlawinen, sie bestehen aus Holz, Stroh und Lehm.
Das Tal von Amenzel beeindruckt mit seinen kultivierten Terrassen und einer ausgeklügelten Bewässerungstechnik, wie ich gleich an meinen Füßen merke. Der Blick geht hinab in die Schlucht Asif N´Oufra und hinauf zum Tizi N´Oumchichka, der Weg allerdings nun durch den Bach. Ich denke, das Gras würde halten, stehe aber unmittelbar im knietiefen Sumpf und verliere auch noch die Markierung. Ein Hirte (wieder : „Alemania gut!“) weist mir den Weg, ich muss auf allen Vieren den Berg hinauf.
PC 4 ist am Fuße des Tizi N´Oumchichka (km 50), Cut Off 18:30Uhr. Ich bin glücklicherweise eine Stunde drunter. Das Ärzteteam gibt mir einen Becher Wasser aus dem Bergbach, eiskalt, schmeckt gut, ich kippe es runter. Fehler, mein Magen rebelliert unter den Augen der Ärztin. Sie reicht mir ein Taschentuch. Ich versuche ihr klarzumachen, daß ich an Wasserallergie leide. Sie glaubt aber, ich hätte das Wasser aus der Lunge abgegeben, hört mich mit dem Stethoskop ab, prüft den Blutdruck und die Sauererstoffsättigung. Ich habe 92, Laufkamerad links hat 72, er darf vorerst nicht weiter. Ich aber auch nicht. Per Funk hält sie Rücksprache mit dem Chefarzt oben am Pass. Um 18:15 Uhr habe ich mir mit einigen guten Witzen das Vertrauen zurückgewonnen. Ein letztes Foto mit der Medizinerin und ich begebe mich an den extremen Aufstieg zum Tizi N´Oumchichka (3200 m).