Es ist stockdunkel, als ich gegen 21.30 Uhr, knapp zwei Stunden vor der Grenzzeit, das schützende Zelt verlasse und mich in die kalte, nieselige Nacht und dem berühmt-berüchtigten Bovine als drittem der fünf Berge entgegen wage. Vereinzelt trippeln die Läufer als leuchtende Punkte durch das nächtlich vereinsamte Champex. Nach dem Tohuwabohu im Zelt wirkt die Ruhe geradezu entspannend. Am stillen Seeufer entlang laufend bekomme ich zumindest eine Ahnung davon, dass dieser Ort bei Tageslicht betrachtet ein wildromantisch gelegener sein muss. Am Ortsende verlasse ich den Asphalt der Straße und werde auf einen bequem zu laufenden Forstweg gelotst. Ein ganz
spezielles, aber keineswegs unangenehmes Gefühl ist es, allein der nur die unmittelbare Umgebung ausleuchtenden Stirnlampe ausgeliefert durch den dunklen Wald zu laufen.
Auffällig ist, dass sich die Läufer unabgesprochen zu kleinen Seilschaften zusammen finden; vielleicht sucht hier jeder unwillkürlich den Schutz der Gruppe. Der erste hat dabei eine besondere Verantwortung: denn er weist den Nachfolgenden letztlich den Weg durch Matsch, Pfützen und sonstige Hindernisse und überhaupt den richtigen Weg. Diesen zu finden ist aber kein Problem: Die Markierungsfähnchen sind mit Reflektoren ausgestattet, die einem schon von weitem entgegen leuchten.
Ich fühle mich gut, das Laufen auf dem recht komfortablen, zunächst flachen und teilweise sogar abschüssigen Weg fällt leicht. Die immer wieder schauerhaft niedergehenden Regengüsse berühren mich, wohlverpackt und aufgewärmt wie ich bin, nicht. Ein paar Kilometer, bis Plan de’Au geht es relativ gemütlich so dahin.
Am Fuße des Bovine mutiert der bequeme Weg jedoch zum steilen Bergpfad, das entspannte Dahintraben wird zunehmend zur Kraxelei durch schweres Gelände. Die Läuferketten lösen sich auf und formieren sich je nach Tempo neu. Schon bei Tageslicht wäre der Weg nicht einfach zu begehen, in der Nacht ist er jedoch eine echte Herausforderung. Kaum vorhersehbar windet sich der Pfad durch grob felsiges Gelände und wildes Wurzelwerk. Höchste Konzentration ist gefragt, um nicht zu stolpern, abzurutschen oder in einem der zahllosen Wasser- und Matschlöcher dazwischen zu versinken. So manche hohe Felsstufe ist zu überwinden.
Der Weg ist nicht immer klar erkennbar und jeder Schrift will wohl überlegt sein. Das merke ich besonders, als ich mich auf einmal am Kopf einer der Lichterketten befinde und nach jedem Schritt erneut entscheiden muss, wo und wie es weiter geht. Nur selten erlaube ich mir einen Blick in die mich umgebende Nacht. Hoch über und tief unter mir kann ich dabei die wie Irrlichter durch die Nacht tanzenden Lampen der Läufer beobachten. Eine besondere Herausforderung stellen auch die diversen, durch den Regen überquellenden Bergbäche dar, die laut rauschend unseren Pfad kreuzen. Binnen Sekundenbruchteilen ist die Wahl zu treffen, über welche Steine man trockenen Fußes durch den sprudelnden Wasserwirbel gelangen will. Einmal verschätze ich mich und spüre die nasskalten Folgen sofort bis zu den Knöcheln. So herausfordernd und ansprengend der immerhin 800 Höhenmeter überwindende Pfad auch ist: er macht besonderen Spaß. Seinen berüchtigten Ruf kann ich, gerade wenn an kräftemäßig schon am Limit ist, aber ebenso gut nachvollziehen.
Dennoch bin ich erleichtert, als wir schließlich aus dem Wald heraus auf einen Pfad gelangen, der relativ eben und schnurgerade als Höhenweg dem Verlauf des Hanges durch offenes Wiesengelände folgt. Ein kalter Wind pfeift uns um die Ohren, doch treibt er auch die Wolken auseinander. Diese werden durch den Mond geisterhaft erleuchtet – eine Szenerie, die einem Gemälde von C.D. Friedrich entsprungen sein könnte. Wunderschön ist auch der Blick auf die tief unter uns friedlich erstrahlenden Lichter von Champex-Lac. Einfach zu belaufen ist der Pfad aber nicht:. Er ist sehr schmal, tief ausgewaschen und äußerst matschig.
Am Horizont erblicke ich in der Bergeinsamkeit schließlich ein verheißungsvolles Licht, das sich beim Näherkommen als das kleine Versorgungszelt am Bovine, 1.987 m üNN gelegen, entpuppt. 64 km sind nun geschafft. Wie selten genieße ich hier um kurz vor Mitternacht, wie der heiße Tee meine Kehle hinunter läuft. Es fällt mir schwer, mich von diesem Ort der Geborgenheit und Wärme wieder zu trennen, wieder hinaus in die unwirtliche Nacht zu traben.
Der höchste Punkt ist am Bovine ist aber noch nicht erreicht. Diesen markiert nach nochmals 60 Höhenmetern erst der Collet Portalo (2.049 m üNN). Ein Weidegatter versperrt den Weg. Das Durchschreiten des Tors bringt uns zu einem neuen Abschnitt unserer Laufreise.
Ein schmaler Pfad führt von hier an steil hinab. Zunächst eröffnet sich uns ein weiterer schöner Höhenblick, dieses Mal auf die Lichter von Martigny. Dann verschluckt uns der dichte Wald. In einer von nur wenigen Schlenkern durchbrochenen, schier endlosen Geraden senkt sich der quer zum Hang führende Pfad hinab. Laut rauscht der Wind durch die Bäume, der Regen setzt wieder ein. Noch mehr als beim Weg hinauf ist hier Konzentration angebracht.
Der Weg ist nicht ganz so ausgesetzt wie beim Aufstieg, aber dennoch voller Steine und Wurzeln und vor allem steil. Verschärft wird die Situation aber vor allem durch den aufgeweichten, rutschigen Boden, der immer wieder höchste Körperbeherrschung verlangt, um dem drohenden Ausrutscher zu entgehen. Der permanente, uns wieder 750 m in die Tiefe führende Bergablauf geht mächtig in die Beine. Mit meinen Laufstöcken versuche ich die Wucht der auf die Oberschenkel wirkenden Kräfte zu verringern, aber nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“ werden meine Beine immer schwerer.
In engen Serpentinen geht es schließlich noch etwas schneller hinab, ehe wir bei Forclaz (km 68,5) überraschenderweise auf einige nächtliche Zuschauer treffen und uns für einen guten Kilometer auf einem endlich einmal wieder breiteren, flach dahin führenden Weg erholen können. In der Tiefe sind unter uns nun schon die Lichter unserer nächsten Zwischenstation, Trient, zu erkennen und mir schwant schon, dass das letzte Wegstück hinunter kein Zuckerschlecken sein wird. Und so ist es auch: Ein total verschlammter Weg führt im flotten Zickzack durch das Gehölz steil hinab. Es fällt schwer, sich auf den Beinen zu halten und nicht nur einer beendet diese Passage mit einer kostenlosen Ganzkörperschlammpackung.
Unbeschadet und erleichtert erreiche ich nach 71,1 km um 2 Uhr nachts Trient (1.300 m üNN). Bei unserer Schleife durch den Ortskern ist es noch ruhig, aber im Festzelt erwartet mich einmal mehr ein Hexenkessel, was wohl auch daran liegt, dass so mancher der feiernden Zuschauer schon kräftig dem Alkohol zugesprochen hat. Wie in Champex ist auch hier das Zelt in einen für Läufer reservierten und einen für jedermann offenen Bereich aufgeteilt. Zum Glück ist der Andrang am Buffet nicht so heftig wie in Champex. Heiße Suppe, Tee und verdünntes Cola sind für mich auch hier wieder das Elexier zur Erweckung noch verborgener Energien, wenngleich ich mich längst nicht so geschwächt fühle wie beim Einlauf in Champex. Dennoch: Ich lasse mir Zeit, denn ich weiß: Auch der nächste Berg wird wieder eine harte Nuss.