Wieder fällt es mir schwer, mich vom Zelt zu verabschieden. Draußen erwartet mich mittlerweile Dauerregen. Ein Blick auf den Streckenplan verrät mir, dass auch der nächste anstehende Berg, Catogne genannt, wieder mit über 700 HM aufwartet, die auf einer Distanz von nur 4,9 km hinauf und 4,6 km hinab zu bewältigen sind. Damit weiß ich auch: leichter wird es nicht.
Sofort fällt mir auf, dass das Band der startenden Läufer deutlich dünner geworden ist. Auf einem beständig durch den Wald ansteigenden Pfad marschiere ich bisweilen ganz allein durch die Nacht. Steinig und wurzeldurchsetzt ist der Weg auch hier, aber relativ gut zu belaufen - kein Vergleich zum Bovine. Der beständig rieselnde Regen und die damit verbundene Geräuschkulisse verstärkt die Monotonie des Anstiegs. Ab und an passiere ich einen erschöpft auf einem Baumstumpf verharrenden Läufer. Niemand spricht ein Wort. Gleichmäßig, aber langsam stapfe ich weiter, stets den Blick auf das vom Lichtkegel erleuchtete kleine Stück Weg vor mir gerichtet. Der Anstieg kostet zunehmend Überwindung.
Der Wald wird schließlich lichter, ein kalter Wind pfeift mir um die Ohren und auch der Regen macht sich unangenehmer bemerkbar. Aber nach 1,5 Stunden flacht der Weg ab und lässt eine schnellere Gangart im matschigen Gelände zu. Die Gipfelregion ist erreicht.
Wie am Bovine ist auch hier, auf 2.011 m üNN nach 75 km eine kleine Getränkestation unter einem Durchgangszelt aufgebaut. Ich bewundere die in dieser ungemütlichen Umgebung ausharrenden und dennoch gut gelaunten Helfer. Ein Lagerfeuer neben dem Zelt sorgt sogar für ein klein wenig Romantik und Wärme. Dankbar schlürfe ich um viertel vor vier Uhr morgens ein wenig heißen Tee. Viel gibt es nicht – der begrenzte Vorrat muss auch noch für andere Läufer reichen.
Wenig lustig mache ich mich an den Abstieg. Und der hat es hier in besonderer Weise in sich. Der im offenen Gelände liegende Weg ist zumeist ein einziges Schlammbad - Entkommen unmöglich. Zunehmend stelle ich meine Bemühungen ein, einen halbwegs festen Tritt zu finden. Es gibt ihn oft nicht oder ich lande bisweilen quasi vom Regen in der Traufe. Steile und weniger steile Passagen wechseln sich ab. Schwierig zu belaufen sind sie allesamt. An den flacheren Stellen versinke ich immer wieder knöcheltief in Sumpf und Wasser, bei stärkerem Gefälle ist dafür die Rutschgefahr umso höher.
Je weiter wir in Richtung Tal kommen, desto ausgesetzter wird der Weg. Fels und Wurzeln machen den Gang nicht einfacher. Dass wir dabei unterwegs die schweizerisch-französische Grenze passieren, merke ich gar nicht. Mehr schlecht als recht jongliere ich durch das Gelände. Das kostet viel Kraft. Und ehe ich mich versehe, ist es passiert: Mir zieht es die Füße weg und ich lande längsseits im Morast. Ein hilfsbereiter Franzose überdehnt mein durch den Sturz von einem plötzlichen Krampfanfall befallenes linkes Bein. Dann geht es für mich schon wieder weiter. Noch ein wenig vorsichtiger und damit langsamer schleiche ich die zuletzt steilen Serpentinen durch den Wald ins Tal hinab.
Als ich, noch bei Dunkelheit, um 5:15 Uhr nach 81 km und 4.663 überwundenen Höhenmetern in Vallorcine einlaufe, fühle ich mich ziemlich geplättet. Mit schweren Beinen schleppe ich mich in das auch hier mitten im Dorf aufgebaute große Zelt. Selbst um diese Zeit ist noch Stimmung, wenn auch nicht mehr ganz so ausgelassen wie in den anderen Orten. In Ruhe und langsam nutze ich die
Verpflegungsangebote, denn ich weiß: Ich habe Zeit. Die Grenzzeit für den Durchlauf in Vallorcine liegt bei 7:15 Uhr und so habe ich ein ausreichendes Zeitpolster, die letzten gut 17 km und nochmals 950 HM über den La Tête aux Vents (2.130 m üNN) nach La Flégrère und weiter bis nach Chamonix innerhalb der Sollzeit möglichst entspannt hinter mich zu bringen.
Gerade will ich zur letzten großen Etappe aufbrechen, da verkündet eine Ordnerin, dass der Bus nach Chamonix da sei. Etwas irritiert stelle ich fest, dass ein Großteil der anwesenden Läufer daraufhin gen Ausgang strebt. Kann es denn sein, dass hier, vor dem letzten Berg, noch so viele aufgeben? Mir schwant schon anderes und auf Nachfrage bekomme ich die etwas bittere Bestätigung: Der CCC wurde wegen der extremen Wetter- und Wegverhältnisse abgebrochen. Ein Weilchen stehe ich unentschlossen herum. Soll ich dennoch die letzte Etappe wagen, zumal vor nicht allzu langer Zeit noch Läufer losgezogen waren? Aber dann setzt sich doch die Vernunft durch und ich ergebe mich in mein Schicksal. Schweren Herzens nehme auch ich den vollgepfropften Bus und lasse mich nach Chamonix chauffieren.
Im Morgengrauen erreiche ich die Stadt. Vom Centre Sportif marschiere ich zum Zielbereich und bin erstaunt, wie menschenleer dieser ist. Niemand läuft ein, kaum jemand steht herum – angesichts der Großveranstaltung irgendwie eine fast surreale Szenerie. Nur die gestrandeten CCC’ler finden sich vermehrt ein und geben ihren Chip ab.
Hier erfahre ich, dass es die Läufer des gestern um 18 Uhr gestarteten UTMB noch ärger erwischt hatte: Sie mussten wegen unkalkulierbarer Wetterzustände am Col de la Seigne bereits nach 31 km in Les Contamines ihren Lauf beenden und wurden nächtens noch von Saint Gervais per Bus und Zug nach Chamonix zurück transportiert. Spontan wurde für sie und die erst gar nicht gestarteten TDS-Läufer eine Ersatzveranstaltung organisiert, die nun heute morgen um 10 Uhr ab Courmayeur auf den Spuren des CCC gestartet werden sollte - für so manchen eingefleischten UTMB-Teilnehmer wohl nur ein bescheidenes Trostpflaster, andererseits besser als nichts...
Nach einem Milchkaffee und ein paar Pain chocolates in einer zielnahen Bäckerei versöhne ich mich langsam mit meiner Situation und versuche ihr auch das Positive abzugewinnen. War der Lauf nicht trotzdem absolut einmalig? Ja, er war es. Hatte ich nicht gestern tagsüber eine fantastische Bergwelt bei herrlichem Wetter erleben dürfen? Ja, ohne Frage. Und hätte der letzte Berg noch so viel mehr Erlebniswert gebracht? Angesichts der bescheidenen Wetterverhältnisse wohl nicht. Was soll es also? Später werde ich in den Ergebnislisten feststellen, dass in diesem Jahr nur etwa ein Viertel der gestarteten CCC-Läufer den Lauf vollständig zu Ende bringen konnten. Alle anderen mussten mehr oder minder freiwillig abbrechen.
Zumindest habe ich jetzt eine Vorstellung davon, warum es so viele Läufer alljährlich zu diesem Ultrarennen treibt. Es ist eben ein einmaliges, unvergleichliches Event - gnadenlos hart und wunderschön zugleich, toporganisiert einerseits, die Eigenverantwortung fordernd andererseits. Ein Lauf, der so manchem seine Grenzen aufzeigt und mit Sicherheit niemanden emotional unberührt lässt.
Ich komme wieder.