Also, nochmal richtig trinken, Flasche auffüllen und los geht's zum Ausgang. Dort warten bereits die Kontrolleure. Sie kontrollieren jetzt die Pflichtausrüstung. Die Jacke, den verplombten Rucksack und das Handy sind Ihnen wichtig. Wer Letzteres nicht dabei hat, wird aus dem Rennen genommen. Das so hart durchzusetzen ist grundsätzlich löblich, allerdings hatte ich die nächsten 40km kein Netz mehr und ich hätte mein Handy im Notfall dazu verwenden können, die Suchmannschaften damit zu bewerfen. Vielen Läufern geht es ähnlich. So kommt es, dass ich auch die SMS nicht erhalte, die mich über eine nicht unerhebliche Streckenänderung informieren sollte. Weiter geht’s nach
Fort du Truc (1997 m – 49,7 km)
Jetzt geht‘s erst durch die Innenstadt und dann hoch und das nicht zu knapp. Also wieder Hirn ausschalten, gehen, Schritt finden, atmen und am besten nichts denken. Es hat aufgehört zu regnen und es ist schwül. Meine Hoffnung ist, dass mit zunehmender Höhe auch die Temperatur runter geht. Vereinzelt sitzen Läufer vollkommen entkräftet am Wegrand, einige kommen mir entgegen und sehen danach aus, als wenn sie aufgeben und zum letzten Kontrollpunkt zurückgehen würden. Ein Läufer liegt in einer Aludecke rum. Bei ihm sind schon 3 Läufer die ihn betreuen.
Hier treffe ich auch erstmals auf Friedbert, einem passionierten Ultraläufer aus dem Schwarzwald. Wir kommen aufgrund meiner Deutschlandflagge am Rucksack ins Gespräch und ziehen uns gegenseitig mental den Berg hoch. Er unterrichtet mich erstmals von einer Streckenänderung, die uns dann am Kontrollpunkt Fort du Truc (18:56) offiziell mitgeteilt wird.
Wir werden in eine andere Richtung gelenkt und es geht die eben mühsam gewonnenen Höhenmeter fast wieder komplett runter auf die Verbindungsstraße D902 von Bourg St-Maurice nach
Cormet de Roselend (1967 m - 68,6 km, Cutoff-Zeit: 01:30 Uhr)
Die Streckenänderung wurde notwendig, weil schwere Gewitter am Col de la Forclaz eine gefahrlose Überquerung nicht zuließen. Damit kann ich leben. Dass die Änderung eine 8km längere Strecke bedingt, auch noch. Dass diese gesamte Umgehungsstrecke allerdings ausnahmslos auf dieser öden Straße stattfinden soll, ist schon eine fette Kröte, die es zu schlucken gilt. Und dass unsere Wasservorräte für so eine lange Strecke reichen müssen, läßt das Bild der bösen Oberschwester wieder vor meinen Augen erscheinen. Der Veranstalter hat bei seiner Entscheidung die Risiken abgewogen:
1. Entweder hochalpin vom Blitz erschlagen oder
2. vom Auto überfahren werden
- und sich für Letzteres entschieden. Egal jetzt, Hirn ausschalten und los geht’s. Friedbert und ich erzählen uns jede Menge Laufabenteuer . Das lässt die monotone Straße mit ihren nicht enden wollenden Serpentinen erträglicher werden und wir haben richtig Spaß. Wir wissen, dass wir ankommen werden, wie und wann auch immer.
Und tatsächlich gibt‘s auch so etwas wie Glück: Da stehen Angehörige von anderen Läufern am Straßenrand und wir können Trinkbares ergattern. Mittlerweile wird es langsam dunkel und im Schein der Stirnlampen geht es endlich rechts ab auf einen Feldweg und dann in ein hellerleuchtetes Dorf. Da stehen viele Menschen und jubeln, schleppen Wasservorräte und Obst an und wir denken zunächst, das ist der VP Cormet de Roselend. Wir wundern uns nur, dass es hier kein Verpflegungszelt gibt. Ich ziehe mich für die Nacht um und wir stellen anhand des Ortsschilds fest (an dem wir die ganze Zeit lehnen…), dass wir in Les Chapieux sind.
Diese Gastfreundlichkeit der Leute in diesem Ort ist unglaublich. Immer wieder werden wir gefragt, ob wir noch etwas benötigen, Kinder schleppen Wasserflaschen ran. Wir müssen los und haben noch ein paar Höhenmeter bis zum VP Cormet de Roselend vor uns. Den Weg dorthin laufen wir bereits komplett im Dunklen und die Sterne leuchten unglaublich intensiv am wolkenlosen Himmel, aber es ist ein absoluter Traum. Langsam kommt der hellerleuchtete offizielle VP in Sichtweite und hier herrscht Volksfeststimmung. Auf dem Parkplatz stehen Busse der Angehörigen, sowie für den Abtransport von Läufern die das Rennen beenden wollen. Jede Menge Angehörige und Familien in Autos und Wohnmobilen sind den Läufern gefolgt. Hochalpine Familientreffen.
Der letzte offizielle Verpflegungsposten war 25km her und jetzt geht’s wieder mal drum, möglichst viel zu tanken, uns zu erholen und neben dem Magen die Trinkbehälter zu füllen. Draußen vor den Zelten weht mittlerweile ein scharfer und kalter Wind und wirbelt den Staub auf, den ich permanent in die Augen bekomme. Im Zelt ist’s warm und eng und der Service ist mal wieder vom Feinsten. Wir brechen auf zum
Col de la Sauce (2307 m)
Der Weg ist breit und gut zu gehen, allerdings weht ein heftiger Wind und wir ziehen sofort unsere Jacken an. Hier oben wird’s plötzlich ganz schnell kalt, wir sind jetzt nach dem warmen Zelt ohnehin anfälliger und frieren. Schade ist nur, dass wir die Landschaft nur im begrenzten Kreis unserer Stirnlampen wahrnehmen können.
Ich differenziere mittlerweile nur noch: schlechter Weg, anstrengender Weg, rauf, runter, große Steine, kleine Steine, lockere Steine... Ein Blick in den Sternenhimmel und die Silhouette der umliegenden Berge sind ein Erlebnis der ganz besonderen Art.
Der Col de la Sauce ist bald erreicht und jetzt bekomme ich für einen Bruchteil ein Netz für mein Handy und es trudeln zwei SMS ein, eine von meiner Frau und eine von Gerhard Börner und seiner Frau Margot. Sie wünschen mir alles Gute für die Nacht. Das tut richtig gut. Weiter geht’s wieder runter in Richtung
La Sausse (1991 m) und Passage du Curé
Ich kenne diesen schmalen und ausgesetzten Weg der ins Tal von La Gittaz führt von Fotos bei Tag: Rechts stark abfallend, unten in der Schlucht ein tosender Gebirgsbach, auf der Gegenseite stark ansteigende Felswände. Ein Trassierband dient im Dunkeln mehr als psychologische Barriere, weniger als ernstgemeinte Sicherung. Wer hier abrutscht, für den sind so ziemlich alle Rennen gelaufen.
Apropos gelaufen: Auf diesen schmalen und gefährlichen Wegen gibt es - pardon - immer noch Spinner, die ein paar Plätze durch waghalsige Überholmanöver glauben gutmachen zu müssen, und das bei Dunkelheit. Sie riskieren nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern auch die der anderen. Später sahen wir sie dann bei der nächsten Steigung erschöpft im Gras sitzen...
Überall in diesem Teilstück sind Streckenposten mit Funkgeräten postiert und überwachen die Trailer. Im Dunkeln sehen wir einen verletzten Trailer im Gras sitzen und sich beim Sturz ernsthaft verletzt hat. Die Hilfskräfte sowie die Ärztin sind bereits bei ihm und versorgen ihn. Spätestens hier wird uns wieder vor Augen geführt, dass das hier kein Spaziergang ist und das mahnt uns zur Achtsamkeit.