Statt zu warten, bis sie es herausgefunden hat, mache ich mich weiter auf den Weg. Die knapp vier Kilometer bis Notre Dame de la Gorge sind locker zu laufen. Fast surreal wirkt dort die in farbigem Licht erleuchtete Fassade der Kapelle zusammen mit der sphärischen Musik aus irgendwelchen Lautsprechern. Irgendwie beflügelt die Szenerie, auf jeden Fall kann ich den strammen Anstieg in Richtung La Balme ganz flott angehen. Dann und wann, wenn ich richtig tief einatme, plagt mich zwar ein trockener Husten, aber davon lass ich mich nicht bremsen.
Je näher der Morgen kommt, umso mehr klart der Himmel auf und ist auch kein Nieseln aus den tief hängenden Wolkenbänken mehr zu verspüren. Zeit also, die Kamera aus der wasserdichten Verpackung zu puhlen und den anbrechenden Morgen bildlich einzufangen versuchen.
Wem beim Halt an der Verpflegungsstation kalt wird, kann sich an einem großen Feuer wärmen, bevor er sich zum Aufstieg zum Col de Bonhomme aufmacht. Der Blick zum Himmel ist verheißungsvoll; es macht den Anschein, dass demnächst die Sonne hinter dem Bergzug aufgehen und die frisch verschneiten Berggipfel zum hellen Leuchten bringen könnte. In der Tat dauert es nicht lange und eine Bergflanke ist in Sonnenlicht getaucht, ohne dass ich die Sonne selbst zu Gesicht bekomme. Je höher ich aber komme, umso mehr nimmt Bewölkung überhand. Bei mir ist in Sachen Leistungsfähigkeit auch nicht mehr eitel Sonnenschein. Mit zunehmender Höhe wäre ich darauf angewiesen, richtig tief atmen zu können. Dies ist aber nicht möglich, da ich sonst gleich zu husten beginne. Damit es von den Bronchien her nicht pfeift und schmerzt, muss ich einen Gang runterschalten, in den Bereich, in welchem ich genügend Sauerstoff aufnehmen kann. Ich trage es mit Fassung, immerhin läuft es mir sonst ganz rund.
Was zuerst kleine weiße Flecken am Boden waren, wächst mehr und mehr zu einer zwar dünnen aber durchgehenden Schneedecke zusammen. Aber der Blick vom Pass hinaus in die westlichen Täler ist ziemlich frei. Doch noch hängt eine Wolkendecke über den Bergen und die Strecke führt in südöstliche Richtung. Dort ist uns das Wetter nicht so gut gesinnt. Beim Refuge de la Croix du Bonhomme muss ich die Kamera wieder tief in die Schutzhülle versorgen. 30 Grad am Vortag und jetzt Schneefall: was für ein Unterschied. Die Aussicht, dass es in Les Chapieux, fünf Kilometer und 900 negative Höhenmeter weiter, die erste ganz große Verpflegung mit warmem Essen geben wird, spornt an. Im Gegensatz zu anderen Läufern halte ich mich beim Abstieg mit dem Tempo zurück. Bloß keinen Sturz oder Ausrutscher provozieren, der mein Abenteuer beenden könnte.
Nach zwanzig Minuten Pause fühle ich mich fit und gestärkt genug, um die nächste Herausforderung in Angriff zu nehmen. Zuerst wird aber noch die Ausrüstung kontrolliert, mit besonderem Augenmerk aufs Handy. Die folgenden fünf Kilometer bis La Valle des Glaciers sind locker zu bewältigen, denn die Straße ist asphaltiert und die Steigung mäßig und so behindert mich mein Husten auch nicht sonderlich. Dies ändert sich dann auf den anschließenden fünf Kilometern hinauf zum Col de la Seigne. Wie wenn der steile Anstieg nicht genug Herausforderung wäre, beginnt es wieder zu regnen. Je höher wir steigen, umso heftiger weht der Wind und das Wasser ändert den Aggregatzustand und peitscht horizontal als dicke Schneeflocken in die Gesichter. Es ist kaum möglich, die Augen offen zu halten und die Finger sind unangenehm klamm. Ab 2000 m beginnt auch mein Kampf wieder, eine optimale Mischung zwischen Atmung und Vermeidung von Hustenanfällen zu finden. Zwischendurch komme ich nicht darum herum, einen kleinen Halt einzuschalten, denn die Pumpe rast in ihrem Bemühen, genug Blut mit Sauerstoff in Zirkulation zu bringen.
Wie ich mich dem Passübergang nähere, gibt es einen Lichtblick. Zumindest einen meteorologischen. Es schneit zwar immer noch, doch hinter dem Wolkenschleier ist die Sonne zum Greifen nah. Auch auf dieser Passhöhe findet der Übergang von einer Wetterlage zur anderen statt. Zum Lac Combal hinunter laufen wir in der Sonne, deren Wärme vom heftigen Wind aber massiv in Schranken gehalten wird. Zwischendurch gibt es auch Sprühregen, doch haben sich die Elemente so weit beruhigt, dass ich unbesorgt die Kamera aus der sicheren Verwahrung hervornehmen kann. Der Blick nach links, hinauf zum Mont-Blanc-Massiv ist beeindruckend. Etwas weiter oben ist die Refugio Elisabetta Soldini, auf unserer Höhe Mauerreste längst zerfallener Gebäude. Das Hochtal ist an dieser Stelle gestuft, was für uns nach einem längeren annähernd flachen Stück im Val Veny nochmals einen Abstieg hinunter zur nächsten Verpflegungsstelle, Lac Combal ergibt. Wäre ich wirklich fit, würde ich es auf dieser Strecke brettern lassen, doch ich spüre, dass ich mit meinen Kräften gut haushalten muss.
Die Verpflegung ist gewohnt hochklassig. Und im Windschatten des Zeltes lässt es sich an der Sonne gut sein. Das anschließende Flachstück nehme ich mit einem lockeren Laufschritt in Angriff und schließe zu einigen Läufern auf, die den Posten vor mir verlassen haben. Trotz der Einschränkungen beim Atmen und den Hustenanfällen, die mich zwischendurch schütteln, bin ich zuversichtlich, dass ich mein Vorhaben weiterziehen kann. Im folgenden Anstieg zum Arête du Mont Favre, dem letzten vor dem wichtigen Etappenort Courmayeur, kommen wir an eine windgeschützte Stelle. Sofort wird es in der Sonne recht warm, worauf in der lockeren Läuferkolonne mit Anpassung der Kleidung reagiert wird. Ich warte noch etwas zu und bin bald schon froh, dass ich mir die Mühe nicht genommen habe. Der Windschutz hält nicht lange an und ich schaffe es nicht, mich mit einer solchen Schrittkadenz den Berg hochzuziehen, dass ich einen solchen Überschuss an Wärme produzieren würde, dass mir nicht zu kalt wäre. Im Gegenteil: Je höher ich komme, umso langsamer werde ich. Immer öfter muss ich sogar stehen bleiben und warten, bis der Körper wieder genügend mit Sauerstoff versorgt ist. Die Pausen nutze ich auch, um mir immer wieder Flüssigkeit einzuverleiben. Ich habe ein schrecklich starkes Durstgefühl im Rachen und den Eindruck, die Atemwege glichen einem Wadi am letzten Tag der Dürre.
Es ist allein der herrliche Ausblick zu den leider schwindenden Gletschern und den darüber thronenden Bergen, der meine Zweifel, ob ich das so noch lange durchhalten kann, zu verstreuen vermag.
Beim nächsten Verpflegungsposten, fast 500 Hm weiter unten, auf dem Col Chécrouit gibt es mehr als nur die angekündigten Getränke. Obwohl es bis zur großen Verpflegung nur noch etwas mehr als vier Kilometer mit über 800 negativen Höhenmetern sind, gibt es zusätzlich zur Flüssignahrung den einen oder anderen besonderen Happen. Wie immer mit fröhlicher Freundlichkeit gereicht.
Nachdem wir uns beim Start verpasst haben, treffe ich hier Pit und gemeinsam machen wir uns auf ins Tal. Ich versuche ihm zu sagen, dass ich nach Möglichkeit mit ihm weitergehen möchte, doch ich kann mich akustisch kaum mitteilen. Die Stimme ist weg. Der Weg hinunter zu den Lungen stäubt wie der Serpentinenpfad nach Courmayeuer. Da nützt das Trinken so wenig wie der Regen zum Befeuchten des Weges genützt hat (was mich nach der Schlammschlacht auf den ersten zwanzig Kilometern einigermaßen erstaunt).
Auf dem letzten Kilometer vor dem Sportzentrum habe ich kaum mehr Augen für die schönen Fassaden aus Stein und Holz der alten Häuser Courmayeurs. Ich plane meinen Boxenstopp, den ich eineinhalb Stunden vor Cut Off beginne. Ich leiste mir den Luxus, mir die Zeit zu nehmen, eine neue Garnitur Kleider anzuziehen. Zum Essen fehlt mir irgendwie die Lust. Die Pasta bekomme ich kaum hinunter. Den Appetit verschlagen hat sicher auch die SMS, die besagt, dass die Strecke ab Champex-Lac - wie am Vortag beim CCC – über Martigny und den Col de la Forclaz umgeleitet wird. Macht total 170 statt 167 Kilometer und statt der angekündigten „nur“ 8800 Hm sind es 9700! Von einer Anpassung der Durchgangs- oder Schlusszeiten ist keine Rede. Weder in diesem, noch einem anderen SMS, noch einem sichtbaren Aushang beim Verlassen der Sporthalle.
„Hallo, was fällt den Organisatoren ein?“ Ich fühle mich ziemlich an der Nase herumgeführt, zumal ich überzeugt bin, dass sich diese Streckenänderung schon am Vortag abgezeichnet, wenn nicht sogar aufgedrängt hat!
In einer Hinsicht tut mir die Wut gut, denn ich vergesse für einen Moment meine körperliche Einschränkung und stapfe zusammen mit Pit los, um den nächsten Berg zu bezwingen. Aber auch hier läuft es gleich. Je höher wir steigen, umso langsamer werde ich und desto mehr Mühe habe ich beim Atmen. Pit zieht gleichmäßig weiter, während ich in immer kürzeren Abständen Halt einlege, die Kehle befeuchte und durchatme, immer darauf bedacht, keinen Hustenanfall zu provozieren. Mit jedem dieser über 800 Höhenmeter mehr reift in mir die Einsicht, dass mein Körper sich nicht in der Verfassung befindet, die Voraussetzung ist, diesen Lauf weiterzuführen. Bis ich zur Refugio Bertone komme, bleibt genügend Zeit, die Vernunft über den Willen Oberhand gewinnen zu lassen. Auch wenn es das erste DNF sein wird, und erst noch kurz vor Erreichen der ominösen Hundertermarke, es gibt keinen Grund, meine Gesundheit aufs Spiel zu setzen.
Bevor ich mir ein Getränk nehme, bin ich schon beim Service Médical und gebe meine Aufgabe bekannt. Ich lasse mir die Chips abnehmen und die Gegenmarke aushändigen, dann ziehe ich fast alles Warme an, das ich noch im Rucksack habe, denn es fröstelt mich. Zusammen mit einem japanischen Sportkollegen mache ich mich auf den Rückweg nach Courmayeur, wo wir einen Bus zurück nach Chamonix bekommen sollten. Er hat wirklich Pech: Letztes Jahr konnte er nur die Ausweichstrecke ab Courmayeur laufen, dieses Jahr nur den Abschnitt bis hier, und dafür ist er den weiten Weg von Osaka gekommen. Wohltuend ist seine Einstellung zu seinem Pech. „Immerhin kenne ich nun trotzdem die ganze Strecke“, meinte er beim Abstieg.
Bei der neuerlichen Ankunft beim Sportzentrum ist es schon dunkel. Wir sehen keinen Bus und auch niemanden, den wir fragen können. Für solche Fälle gibt es die Nummer der Organisation auf der Startnummer. Doch was ich da erfahre, hilft nicht weiter. Vermutlich hätte mir die Telefonauskunft in Ouagadougou den Weg zur Place Pigalle in Paris besser beschreiben können…
Zum Glück treffen wir dann noch auf Helfer, die sich unser annehmen und sich bemühen, um uns auf einen Bus zurück nach Chamonix zu bekommen.
Eingehüllt in die Rettungsdecke warten wir im kalten Abendwind eine weitere Stunde, bis ein Kleinbus uns mit einer Gruppe von später zu uns gestoßenen Abbrechern aus Arnuva an einen anderen Ort fährt, wo wir in einen großen Reisebus umsteigen können. Ich nehme Platz, klappe mich Wärme sparend unter meiner Decke zusammen und bekomme weiter nichts mehr mit, bis man mir sagt, dass ich aussteigen könne.
Ich hole noch schnell meinen Drop Bag und lasse mich auf dem Weg zum Auto komisch anstarren, denn noch immer bin ich in die Decke gehüllt. Dies bleibt auch im Auto so, wo ich, so wie ich bin, gleich unter die dicke Decke krieche und mit abnehmendem Frösteln den Schlaf finde. Nur die regelmäßigen Hustenanfälle vermögen meinen Schlaf zu stören. Dass die ganze Nacht über die Nase läuft, nehme ich erst später wahr.
Auf dem Rückweg von der Dusche treffe ich am Sonntagvormittag Craig und April, das Honeymoon-Paar. Bei der Refuge Bonatti entschieden sie sich in Anbetracht von nur noch 15 Minuten Puffer auf die Cut Off Zeit, gemütlich nach Arnuva abzusteigen, dort abzubrechen und nach Chamonix zurückzukehren. Nach langem Wandern wurden sie plötzlich von mehreren Läufern in hohem Tempo überholt und erfuhren von diesen, dass die Zeitbarrieren angepasst worden seien. Per SMS hatten sie jedenfalls nichts erfahren und mündlich auch nicht. Craig meinte auch, dass er sich im Rahmen des UTMB sowieso weitaus mehr in Spanisch als in Englisch unterhalten habe, um sich zu verständigen…
Die Unterhaltung mit verschiedenen anderen Teilnehmern bestärkt mich in meinem Empfinden gegenüber dieser Veranstaltung. So schön die Strecke auch ist, so engagiert der Einsatz der zahlreichen Helfer auch ist und so gut die Stimmung (vor allem durch die mitgereisten Angehörigen) auch ist, ich habe nicht den Eindruck, als müsse ich den durch meine gesundheitlichen Schwierigkeiten verpassten Finish am UTMB unbedingt nachholen. Von einer Veranstaltung dieser Dimension und diesen Anspruchs erwarte ich gegenüber den Teilnehmern bessere Kommunikation und mehr Fairplay. Eine kurzfristige Anpassung der Spielregeln, die „selektive Offenheit“ (ich bin überzeugt, dass am Freitag definitiv nicht mit einer Streckenführung über den Bovine gerechnet werden konnte; den Journalisten wurde in einem Bulletin als Grund für die Umleitung angegeben, das Versorgungszelt auf dem Bovine sei vom Unwetter beschädigt worden; es war keine Rede von Erdrutsch- und Steinschlaggefahr) und die schlechte Kommunikation sind kein Ruhmesblatt.
Zugegeben, die Spitzenläufer und die Finisher mit potentiellen Zeiten unter 40 Stunden betreffen solche Unschönheiten mäßig bis gar nicht. Dann sollen die Veranstalter aber bitte diese Veranstaltung auch als Elite-Sportanlass deklarieren und den gut trainierten „Durchschnittsläufer“ gar nicht zulassen.
Als Zuständiger beim Titelsponsor hätte ich keine Freude, wenn sozusagen in meinem Namen eine potentielle Zielgruppe so vergrault würde. Aber wie heißt es so schön: der Markt soll entscheiden. Ich als klitzekleines Stückchen des Marktes habe für mich entschieden. Sollten Korrekturen angebracht werden, komme ich gerne zurück, ansonsten kann ich gerne darauf verzichten.