Als vor etwa 20 Jahren mein Vater im Alter von 49 Jahren an Krebs starb, sehr übergewichtig und von den Zwängen des Lebens ins Abseits getrieben, war dies für mich ein Warnschuss und ich änderte mein Leben. Ich rechnete mir aus, an welchem Tag ich älter sein werde als er es wurde. Es sollte mir dann gesundheitlich und seelisch besser gehen als ihm. Es gelang mir viel besser, als erhofft. Jetzt dranbleiben. Sportlich will ich in dem Alter, in dem laut allgemeiner Meinung die körperliche Leistungsfähigkeit nachlässt, noch zulegen. Mit 30 hätte ich keinen Halbmarathon geschafft und mit 40 keinen Ultra. Aber mit 51 will ich das UTMB-Ziel erreichen.
Auf dem 2329 m hohen Col du Bonhomme haben wir genau die Marathon-Distanz erreicht. Nun geht es über unwegsame Trails auf und ab. Bereits ab 3 Uhr kann man lange vor der Morgendämmerung im ersten zarten Licht die Konturen der Berge erahnen. Schließlich erreichen wir das Refuge de la Croix du Bonhomme, wo wie oft an der Strecke unsere Startnummern mit einem Handscanner erfasst werden.
Nun folgt ein Abstieg, bei dem trittsichere Läufer schnell bergab laufen können, andere dagegen manchmal nur vorsichtig gehen. Nach dem Regen gestern liegt nun über uns ein wolkenloser Sternenhimmel und es ist nicht kalt. Ich kann ohne Handschuhe laufen.
Unten bei der VP in Les Chapieux auf 1549 m halte ich mich nur kurz im Zelt der Verpflegungsstelle auf. Ich will nun endlich etwas mehr Abstand zum Zeitlimit gewinnen.
Auch als fanatischer Trailrunner spürt man Freude, wenn es in dunkler Nacht eine Weile auf Asphalt flach dahin geht. Nach dem stressigen Weg zuvor ist dies recht erholsam. Ich schalte sogar für eine Weile meine Stirnlampe aus, denn hier brauche ich sie nicht. Erst später beginnt wieder ein leichter Trail-Aufstieg. Auf dem Weg zum Col de la Seigne sehe ich die längste Lichterkette überhaupt. Ich glaube, ich sehe die Lampen von Läufern, die mehr als eine Stunde vor oder hinter mir unterwegs sind. Dieses nächtliche Gemeinschaftserlebnis ist einzigartig.
Oben am 2516 m hohen Pass kommen wir gerade rechtzeitig bei Sonnenaufgang an. Auch dies ist ein magischer Moment. Fast jeder bleibt eine Weile stehen, um die Szenerie zu genießen.
Wohl jeder braucht ein Ziel, eine Vision, damit sein Leben nicht stagniert. Für manche Menschen ist ein Luxus- Auto, ein Haus, vielleicht eine neue Freundin. All das will ich nicht. Ich bin mit 51 Jahren so weit von einer Midlife Krise entfernt wie nie zuvor. Und der Blick auf viele weitere Ultratrails ist für mich wie ein Jungbrunnen.
Auf einer herrlichen Genusslauf-Strecke geht es hinab zur Verpflegungsstelle beim Lac Combal auf 1970 m. Wieder kann ich ein paar Gletscher meiner Sammlung hinzufügen.
Viele hundert Läufer reisen extra wegen des UTMB von anderen Kontinenten an. Darunter nicht nur die Spitzenläufer, sondern ganz normale Laufbegeisterte wie ich selbst. Die einzigartige Atmosphäre dieses Nationen verbindenden Events will ich unbedingt erleben.
Vor uns scheint eine riesige Moräne wie eine Staumauer das Tal zu versperren. Dann steigen wir in der jetzt wärmenden Sonne wieder bergauf.
Immer schönere Gletscherblicke faszinieren mich. Gemeinsam mit Läufern aus der ganzen Welt laufe ich durch eine der schönsten Regionen der Alpen. Man unsere Herkunft leicht an der Nationalflagge auf der Startnummer erkennen.
Bei Arete du Mont-Favre auf 2435 m ist wieder eine Kontrollstelle. Auch hier bleiben viele von uns eine Weile stehen, um die Aussicht zu genießen. Unbeschreiblich! Der Begriff "zum Heulen schön" trifft hier ohne
Übertreibung zu. Viele Fotos und Promo-Filme von genau dieser Stelle trugen wesentlich dazu bei, in mir den Wunsch auf eine UTMB-Teilnahme zu wecken. Immer wieder habe ich es mir vorgestellt, wie es sein wird, hier Teil der endlosen Läuferkette zu sein. Und nun darf ich es erleben. Die Realität übertrifft alles. Vielleicht sind dies die emotionalsten Kilometer meines Lebens. Welch ein Geschenk!
Auch die nächsten Kilometer sind reiner Genuss. Habe ich in der letzten Nacht wirklich nicht geschlafen? Eigentlich sollte man glauben, dass ich hundemüde über die Berge stolpere. Doch diese grandiose Strecke und das schöne Wetter kompensieren den Schlafmangel. Bei der Verpflegungsstelle am Col Chercrouit singt ein Chor christlich klingende Lieder.
Die Erfahrungen beim Überwinden der inneren Krisen, die während eines Ultratrails nicht ausbleiben, helfen auch im „normale Leben“ weiter.
Nun folgt ein äußerst steiler Abstieg durch Wald, teilweise über hohe Treppenstufen. Das geht böse in die Beine. Hier können wir die Anfeuerung durch die zahlreichen Wanderer gut gebrauchen. Vor allem die Wanderer, die gerade selbst auf der Tour de Mont-Blanc unterwegs sind, wissen unsere Leistung zu würdigen.
Endlich erreiche ich Courmayeur. Schon seit vielen, vielen Stunden habe ich diesen Moment herbeigesehnt, denn hier liegen unsere Drop-Bags mit frischer Kleidung. Courmayeur liegt auf 1195 m am oberen Ende des Aosta-Tal. Von hier kommt man durch den Mont-Blanc-Tunnel nach Chamonix.
77 km habe wir jetzt geschafft. Die Ausgabe und Rückgabe der Drop-Bags ist perfekt organisiert. In der Halle hat man dagegen sehr wenig Platz zum Umziehen. Ich wollte mindestens 2 Stunden Vorsprung zum Zeitlimit haben, aber stattdessen schmilzt mein Polster immer mehr. Weil ich mich gut fühle, mache ich mir keine Sorgen.
Inzwischen ist es fast schon zu warm. Bei einem Brunnen bleibt fast jeder stehen und nutzt die Chance zur Abkühlung. Der nächste Aufstieg über 800 Höhenmeter fühlt sich für mich schwer an, obwohl er objektiv gesehen harmlos ist. Beim Refuge Bertone auf 1979 m legt dann wohl jeder eine längere Rast ein.
Einige Zeit wechseln nun Auf- und Abstiege in kurzer Folge. Ich hatte mir im Vorfeld angesichts von Höhendiagrammen und Zeitlimits ausgerechnet, dass ich in einem für mich eher entspannten Tempo laufen kann. Stattdessen laufe ich meist nahe an meiner körperlichen Grenze, bleibe aber dennoch immer nur zwischen 30 und 60 Minuten vor den Cut-Offs. 46 Stunden scheinen für 168 km viel Zeit. Aber wenn man die Aufenthalte an den Verpflegungsstellen abzieht, die viel länger ausfallen als bei einem kürzeren Lauf, kommt man auf eine ganz andere Laufgeschwindigkeit.
Weiterhin „sammeln“ wir auf unserer Strecke Gletscherblicke. Nach dem Refugio Bonatti folgt ein Abstieg, bei dem man langsamere Läufer nur schwer oder gar nicht überholen kann. Als ich in Arnuva ankomme, halte ich mich dann nur kurz auf, denn ich will für die Nacht genügend Zeitreserve haben.
Auf baumlosem Hang marschiert die Läuferschlange mit tollem Gletscherblick hinauf zum 2537 m hohen Grand Col Ferret. Nach wie vor laufen wir bei schönstem Wetter. Oben am Pass sehen wir aber, dass es auf der Schweizer Seite nicht so schön ist. Unseren 100. Kilometer laufen wir dann auch im Nebel. Der Abstieg ist zunächst gut und schnell laufbar, dann kommen einige Abschnitte, die uns ausbremsen, auch einige kurze Zwischen-Aufstiege. Bald laufen wir unterhalb der Wolkengrenze und sehen wieder etwas mehr von der Landschaft.