Die unterschiedlichen Lichtstimmungen im Laufe von 24 Stunden, die wechselnden Wetterbedingungen - all dies erlebt man bei solchen langen Läufen viel intensiver aus als bei reinen Tagestouren. Das Naturerlebnis wird kombiniert mit der Freude an der sportlichen Herausforderung und der für mich ebenso wichtigen Begegnung mit den vielen gleichgesinnten Läufern.
In der Dämmerung erreichen wir in La Foully auf 1598 m die nächste Cut-Off-Stelle. Hier esse und trinke ich vor Anbruch der Nacht wieder genügend. Als ich die VP verlasse, wird es schon Zeit für die Stirnlampe. Ein abwechslungsreicher Weg führt uns nun talabwärts. Tiefster Punkt ist Issert auf 1055 m.
Dann beginnt der anstrengende Aufstieg nach Champex. Ich kann es zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen, aber ca. 16 Stunden vor Zielankunft erreiche ich meinen mentalen und körperlichen Tiefpunkt. Ich fühle mich unglaublich müde und kann kaum noch die Augen offen halten. Wie in Trance schleppe ich mich weiter. Die Versuchung, jetzt wie viele andere Läufe einfach an den Streckenrand zu sitzen und zu schlafen, wird fast übermächtig. Aber ich mir das mit so wenig Abstand zum Zeitlimit nicht erlauben. Viele Dutzend Läufer ziehen an mir vorbei, aber ich schleppe mich nur noch kraftlos voran. Ich stolpere, bin wohl kurz beim Gehen eingeschlafen. Wie soll das in der restlichen Nacht funktionieren?
Endlich erreiche ich kurz vor Mitternacht Champex-Lac auf 1465 m. Partymusik und gute Stimmung wecken meine Lebensgeister. Drei Becher Cola, eine Tasse Kaffee – ist das schon Doping? Auf jeden Fall geht es mir gleich besser.
Das ganze Gewühl ist mir zu unruhig. Ich bin froh, als ich das große Zelt wieder verlassen kann. Draußen fühlt es sich plötzlich recht kalt an. Ich setze mich am See auf eine Bank und ziehe ein zusätzliches warmes Shirt und die Handschuhe an. Weiter geht´s!
Etwa 150 Höhenmeter leichter Abstieg, dann geht es wieder bergauf. Wieder einmal sehe ich weit, weit über mir die Lichter der schnelleren Läufer. Dieser Anblick erschreckt mich nun aber. Klar, dass es weit hinauf geht, weiß ich. Ich bin auch sicher, dass der Aufstieg weit höher hinauf führt als die oberste Stirnlampe, die ich jetzt sehen kann. Aber in meiner Müdigkeit ist das wie ein Schlag ins Gesicht. Die etwa 700 Höhenmeter Aufstieg fallen mir schwer, aber ich weiß jetzt, dass ich das Ziel erreichen kann.
Beim nächsten Abstieg sehen wir lange Zeit die Stadtlichter unter uns. Bei der nächsten Kontrollstelle muntert uns Rockmusik auf. Dann folgt ein schneller Abstieg, der mir wieder so richtig Spaß macht. Ich bin wieder hellwach.
Als ich vor mir Häuser sehe, glaube ich, schon Trient erreicht zu haben. Doch dieser Ort liegt noch weiter unten im Tal. Wir hören Musik und Lautsprecherdurchsagen. Das letzte Stück führt der Weg wieder brutal steil bergab.
In Trient auf 1300 m habe ich nun etwas mehr Abstand zur Schlusszeit. Sehr schön! Ich bin zwar erschöpft, doch es geht mir viel besser als beim Aufstieg nach Champex. Nun bin ich fast sicher, dass ich in 8 - 10 Stunden UTMB-Finisher sein werde. Diese Zuversicht treibt mich weiter, auch wenn mir die Höhenmeter immer schwerer fallen.
Als langsamer Bergauf-Steiger muss ich jetzt viele andere Teilnehmer an mir vorbei lassen, oftmals muss ich dazu Platz machen. Das kostet Kraft und Zeit. Man kann halt nicht immer sein ideales Tempo gehen oder laufen.
In der Morgendämmerung sieht man die Gipfel in Wolken. Hoffentlich ändert sich das, denn ich würde gerne weitere Gletscher sammeln. Ab Catogne folgt wieder ein schneller Abstieg mit überholen und überholt werden. 700 m tiefer erreiche ich Vallorcine.
Jetzt kann eigentlich nichts mehr schief gehen! Ich bin überzeugt, dass die im Streckenplan angegebene Maximalzeit für die restliche Route sehr großzügig kalkuliert ist und ich nun bis Chamonix noch mehr Abstand zur Schlusszeit gewinnen kann. Doch dies erweist sich als Irrtum. Schon für den sehr bequemen Weg bis zum Col des Montets brauche ich länger als erwartet.
Dann beginnt der letzte Aufstieg. 700 meist sehr steile Höhenmeter fordern noch einmal alles von mir. Einesteils bin ich überglücklich, bald UTMB-Finisher zu sein, andererseits plagt mich nun die große Enttäuschung darüber, wegen dichtem Nebel heute nicht wie seit Monaten erhofft zum Abschluss des Rennens das großartige Panorama in Richtung Mont-Blanc-Massiv genießen zu können. Das monotone Grau beim UTMB-Finale hatte ich mir nicht gewünscht.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Über steile Treppenstufen stapfe ich weiter. Dann, fast ein Wunder, zeigen sich die ersten blauen Flecke am Himmel, die ersten Berggipfel tauchen aus dem Grau auf und verschwinden wieder. Der Nebel und die Wolken lichten sich immer mehr. Nun komme ich vor lauter Fotografieren kaum noch voran. Egal, das ist es mir wert. Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie froh ich bin, nicht schon ein oder zwei Stunden früher hier oben angekommen zu sein und diese herrlichen Anblicke verpasst zu haben.
Auch der nicht besonders steile Streckenabschnitt nach La Tete aux Vents (2130 m) lässt wegen anspruchsvollem Untergrund kein schnelles Laufen zu. An zwei, drei Stellen braucht man auch die Hände, um abzusteigen.
Die eigenen Grenzen ausloten. Wer einen Halbmarathon schafft, will wissen, ob er auch 42,2 km laufen kann. Nach flachen Stadtmarathons folgen solche in bergigem Gelände. Dann lockt der erste Ultra. Nach 100 km könnte man auch mal 100 Meilen probieren. Ist der UMTB für mich immer noch so unmöglich wie ich es vor einem Jahr gedacht hatte?
Bei der Bergbahnstation La Flegere trinke ich eine Cola und eile weiter. Die letzten 8 km mit ca. 800 Höhenmetern sind eine abwechslungsreiche Genusslauf-Strecke. Mal Skipiste, dann wurzelige Waldwege, mal steinig, mal bequem, zwischendurch sogar über die Terrasse eines Panoramarestaurants - hier macht mir jeder Meter unglaublich Spaß.
Hurra, Chamonix ist erreicht!!! Ich laufe unten am Fluss entlang, genauso wie ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte. JAAAA! Ich humple nicht kraftlos, sondern laufe mit Begeisterung, strahle, juble. Dann erreiche ich die Fußgängerzone. Unglaublich, 24 Stunden nach Ankunft des Siegers und 90 Minuten vor Zielschluss säumen noch unglaublich viele Zuschauer die Strecke. Begeisterung pur, großartig wie der gesamte Lauf.
Geschafft! Mehr als eine Stunde vor Zielschluss sitze ich überglücklich auf der Treppe vor der Kirche. Ich habe DIE WESTE! Für alle UTMB-Finisher ist die traditionelle Finisherweste mehr als Bekleidungsstück. Für mich ist sie wie eine Goldmedaille.
Mehr als einen Tag nach dem Sieger erreiche ich das Ziel. Francois D´Haene kam gestern bereits nach 20:11 Stunden in Chamonix an, schnellste Frau war Rory Bosio mit 23:23.
Und jetzt wird es lustig: Bisher hielt ich manche Schilderung von Halluzinationen durch Schlafmangel erzählten. Doch in der zweiten Nacht glaubte ich auch, seltsame Dinge am Streckenrand zu sehen. Die krasseste Halluzination folgt aber erst nach meiner Ankunft im Hotel. Rückblickend amüsiert es mich ebenso, wie es mich erschreckt. Ich übertreibe nicht:
Ich ziehe meine langen Laufhosen aus und wundere mich, als ich sehe, dass meine Beine mit Buchstaben bedeckt sind. Nicht nur Buchstaben, auch komplette, unverständliche Wörter stehen drauf. Und da sind Zeichen, die wie Stempel aussehen. Und ein paar Zeichnungen, die an Cartoons erinnern. Woher kommt das? Ich untersuche meine Hosen, ob da etwas drin steckt, das abfärbt. Ich glaube, im Stoff ebenfalls Buchstaben erkennen zu können. Äußerst merkwürdig. Ich habe keine Erklärung und setzte mich ans Fenster, damit ich genug Licht habe, um dieses Phänomen zu fotografieren.
Mehr als fünf Minuten lang mache ich aus allen Perspektiven Fotos der Worte und Cartoons auf meinen Beinen. Ich kann mich selbst am nächsten Tag bei der Heimfahrt im Zug noch an so viele Details dieser Graphiken erinnern, dass ich sie aus dem Gedächtnis nachzeichnen könnte.
Aber auf den Fotos sind nur schmutzige Beine zu sehen, sonst nichts. Wahnsinn!
Der UTMB ist so groß, dass ich auch Tage danach in meiner Erinnerung den Lauf nicht als Ganzes erfassen kann und ich beim Beschreiben mancher Streckenabschnitte und Erlebnisse Tränen in den Augen habe.