Trailrunning ist in – das belegt die zunehmende Zahl und Beliebtheit von Naturläufen, vor allem in den Bergen und gerne auch mal ein paar Kilometer mehr. Der Nachteil: Als Städter muss man meist erst auch ein paar Kilometer mehr zurück legen, um zu so einem Lauf überhaupt zu kommen. Sozusagen aus der Not eine Tugend macht ein neuer Trend, der in der Laufszene um sich greift: der Urban Trail.
Wer im Internet surft, wird feststellen, dass es schon für nicht wenige urbane Ballungsräume Routenvorschläge zum Run auf naturnahen Routen „off the beaten tracks“ durch den städtischen Dschungel gibt. Zunehmend erkennen auch Veranstalter dieses Potenzial und bieten so etwas professionell organisiert an. Zwar erst seit fünf Jahren auf dem Markt, aber doch so etwas wie ein Pionier ist der Urban Trail Luxembourg. Wer eine Vorstellung vom Bodenrelief der Fürstenkapitale hat, dem wird schnell klar: Wohl kaum eine Stadt bietet derart ideale Voraussetzungen für solch ein Event. Tiefe, verzweigte Schluchten, Felsen, Höhlen, Festungsgemäuer, all das reichlich und mitten in der Stadt - wo gibt es sonst so etwas?
Schon der große "Hauptstadtmarathon" Luxemburgs ist ein Erlebnis für sich und erschließt die Stadt auf Asphaltbasis bis in die kleinste Verästelung. Da, wo der Marathon aufhört bzw. nicht hinkommt, fängt der Urban Trail sozusagen erst an. Zwischen drei Distanzen kann man wählen. 13, 27 oder 34 km, letztere solo oder in der Staffel. „La GranDucale“, wie der 34 km-Kurs genannt wird, hatte bis 2014 gar 56 km, doch - aus welchen Gründen auch immer – wurden ihm die Kilometer gestutzt. Der große Renner, was den Teilnehmerzuspruch anbetrifft, sind „Les Traces de Vauban“ über 13 km. Drei Viertel der etwa 2.900 gemeldeten Teilnehmer entfallen allein auf diesen. Wenn schon, denn schon gehe ich mit knapp 300 anderen allerdings über 34 km auf die lange Entdeckungstour.
In der historischen Cité Judiciaire auf dem Plateau du St. Esprit (Heilig-Geist-Plateau) ist im zentralen Innenhof das Start- und Zielgelände eingerichtet. Eine eindrucksvolle Kulisse bilden die umliegenden Justizgebäude. Für die Ausgabe der Startunterlagen ist ein paar Schritte weiter und tiefer gelegen ein großes Zelt am Rande des Plateaus aufgebaut. Schnell ist die „Pflicht“ der Startnummernabholung erledigt, so bleibt mehr Zeit für die Kür: Und die besteht darin, das grandiose Panorama von hier aus zu genießen: Tief unter uns im Tal windet sich die Alzette durch den Stadtteil Grund, dahinter steigt schroff der Riegel des Bock-Felsens auf, im Hintergrund überragt von der Skyline der Euro-City auf dem Kirchberg. Das macht Lust auf mehr, zumal ich weiß: überall dorthin komme ich beim Trail noch hin.
Kühl ist es, aber die Sonne lacht zwischen dicken Wolken vom Himmel. Optimale Laufbedingungen also. Ein wenig irritiert mich, dass die Hälfte der 34 km-Starter Trinkrucksäcke mit sich führt. Habe ich da etwas versäumt? Mein Fazit im Nachhinein: kann man, muss man aber nicht mitnehmen. Es gibt unterwegs genug zu trinken, doch trennen die Versorgungsspots auch schon mal mehr als fünf Kilometer.
Die Starts der diversen Distanzen erfolgen zeitverzögert und ausschlaffreundlich zwischen 10:40 und 12:20 Uhr. Die Matadore des „La GranDucale“ dürfen dabei den Anfang machen, schließlich sind sie auch am längsten unterwegs. Da die kürzeren Distanzen letztlich Teilmengen der 34 km-Strecke sind, ist ein Aufeinandertreffen im Verlauf des Rennens vorprogrammiert.
Erst kurz vor dem Startschuss füllt sich der Startkanal. Die letzten Sekunden werden herunter gezählt. Ein lauter Knall erlöst die ungeduldig Wartenden und mit Tempo jagen wir aus der Cité Judiciaire hinaus auf den Boulevard F.D. Roosevelt.
Die Ville Haut (Oberstadt) und damit das Herz Luxembourgs ist für uns sozusagen die Warm Up-Zone. Ganz konventionell auf Asphalt dürfen wir auf den ersten 1,5 Kilometer City-Luft schnuppern und dabei en passant einige der Sightseeing-Highlights der Altstadt abklappern.
Direkt am Rande des steil abfallenden Tals der Petrusse führt der Boulevard entlang. Als grüner Lindwurm mäandert die Petrusse mitten durch die Stadt. Kaum zu glauben ist, wie tief sich dieses gerade einmal gut 12 km lange und nur ein Stück weiter in die Alzette mündende Bächlein in den Boden gegraben hat. Zur Rechten ragt spitztürmig die Kathedrale Notre Dame empor, schon sind wir an der Place de la Constitution. Wie ein riesiger Balkon ragt dieser Platz in das Tal der Petrusse. Von hier hat man den bekannten Postkartenblick auf die das Tal überspannende Adolphe-Brücke, seit 110 Jahren eine der größten Steinbogenbrücken der Welt. Aktuell wird das Panorama allerdings durch eine renovierungsbedingte Einhausung getrübt. Ungetrübt ist zumindest der Blick auf das pompöse Verwaltungsgebäude der Staatssparkasse auf der anderen Talseite.
Ein jäher Schwenk nach rechts führt uns vorbei am Rathaus zur Rue Philippe II, eine der autofreien Shoppingmeilen der Stadt. Heute herrscht allerdings sonntägliche Ruhe. So manchem wird es wie ein jäher Spuk vorkommen, als wir trappelnd über das Kopfsteinpflaster hereinbrechen und sogleich wieder weg sind. In einem Bogen umkreisen wir die zentralen Plätze der Oberstadt. Direkt vorbei führt uns der Weg am feudalen Großherzöglichen Palais (Palais Grand Ducal), der offiziellen Residenz der großherzöglichen Familie. Mein Tipp: Eine der Monstertorten und heiße Schokolade im gegenüber liegenden „Chocolate House“ genießen und von dort ganz entspannt den Touristenrummel vor dem Palais beobachten. 1,5 km sind wir unterwegs, als sich die Runde schließt und ich für einen Moment erneut in den Startbereich in der Cité Judiciaire blicke.
Spektakulär geht es weiter entlang der Chemin de la Corniche. Hoch über den Festungsmauern führt der Pflasterweg am Steilhang entlang. Ein steter Blick in das Tal der Alzette begleitet uns, hinein in üppig frühlingsfrisch blühende Natur und über die Dächer des Stadtteils Grund. Im Mittelalter wurde Luxemburg zu einer der größten und wehrhaftesten Festungen Europas ausgebaut, mit drei Mauerringen, zahllosen Forts und Bastionen. Die Wehreinlagen waren größer als die Stadt selbst. Erobert wurde sie nie, doch, nachdem sie ihre militärische Bedeutung verloren hat, Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend geschliffen. Was man heute sieht, sind daher nur noch Reste der einstigen Festung. Aber selbst die sind noch überaus imposant. Noch einmal machen wir einen Schlenker in Richtung Oberstadt, ehe wir nach 2,5 die mächtige Schlossbrücke, ein beeindruckendes Relikt der Festung, unterqueren und erneut hoch über dem Tal der Alzette stehen.
Hier endet sozusagen die Schonzeit: Erstmals geht es kräftig downhill. Ein schmaler Pfad führt steil hinab gen Tal. Was für ein wundervoller Weg! Senkrecht steigt zu unserer Linken der Bock-Felsen empor, während wir immer mehr in die Natur des Talgrunds eintauchen. Auf Treppen und Stiegen werden wir schließlich über und durch Festungsanlagen gelotst. Dabei gilt es auch eine Wendeltreppe in einem engen Turm zu erklimmen - was für ein Spaß. Dass es hier zu einem kleinen Stau kommt, stört niemand. Spätestens jetzt wird auch klar, warum der Veranstalter immer nur maximal 300 Läufer gleichzeitig starten lässt.
Direkt an der Alzette geht es durch die Traumlandschaft weiter. Wie gemalt ist die Kulisse aus stillem Wasser und blühenden Bäumen, alten Brücken und Wehrgemäuern, umrahmt vom Fels und der Stadt hoch oben. Aus gewisser Distanz wird gut erkennbar, dass der Bock-Felsen durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Es ist sein Innenleben, für das dieser Felsen berühmt ist. Denn hier kann man die wohl imposantesten der Kasematten Luxemburgs bestaunen, jenes kilometerweit in den Fels getriebene System aus Stollen, Räumen und „Kanonenfenstern“, das im 18. Jahrhundert primär von den Österreichern zu Wehrzwecken angelegt wurde.
Unter einer jener vielen, die Täler turmhoch überspannenden Steinbrücken hindurch gelangen wir, zuletzt einem Bohlensteg folgend, ostwärts nach Clausen. Magischer Anziehungspunkt dieses Ortsteils ist der Komplex Rives de Clausen. Auf dem ehemaligen Gelände der Brauereien Mousel und Clausen hat sich „das“ Ausgehviertel Luxemburgs schlechthin etabliert. Restaurants und Bars reihen sich in hübsch restauriertem historischem Gemäuer mit Schlot obendrauf dicht an dicht. Dass hier der „Punk abgeht“, merkt man um diese Tageszeit noch nicht. Aber wenn die Schatten der Nacht kommen, füllen die Nachteulen schon bald das Areal. Böse Zungen behaupten, dass hier der pure Nepp regiert. Entgehen lassen sollte man sich einen abendlichen Besuch aber nicht. Zum Essen empfehle ich allerdings das nahe, an der Straße nach Grund gelegene „Melusina“.
Unser Kurs führt mitten durch den Komplex. Zu trinken gibt es hier, nach knapp 3,5 km, auch etwas, allerdings weder Caipi, Sprizz oder Bier. Wir müssen uns mit Wasser begnügen. Das ist aber gut so, denn sonst bräuchten wir zu dem, was folgt, erst gar nicht antreten. Treppe an Treppe reiht sich aneinander, über die wir jenseits der Alzette durch die Flussauen den steilen Hang erklimmen müssen und erstmals ordentlich positive Höhenmeter sammeln dürfen. 655 Höhenmeter, hinauf wie hinab, sind auf dem Kurs insgesamt zu bewältigen. Das ist nicht viel, wenn man durch die Berge läuft. Aber beachtlich, wenn man eigentlich gar nicht in den Bergen ist. Und noch beachtlicher, weil kräftezehrender, wenn man dabei immer wieder Treppensteigen muss.
Zwischenzeitlich Erholung verspricht die wiederum zentrumszugewandte Trierer Straße. Aus der wiedergewonnenen Höhe eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Auf Augenhöhe sind wir mit der Oberstadt, die ich nun von der anderen Talseite aus überblicken kann. Markant überragen die langen Turmspitzen der Kathedrale das Häuserdickicht. Spannend geht es für uns weiter. Das in einer Flussschleife der Alzette gelegene Plateau Rham, einst Teil der Festung Luxemburg, harrt nach 4,5 km der läuferischen Entdeckung. Das bedeutet für uns konkret: Über Singletrails geht es auf Wehrgängen über die Festungsmauern dahin, treppauf, treppab, hin und her. Ein Blickfänger ist auch der Steilhang am jenseitigen Ufer der Alzette. Denn wir blicken geradewegs auf die Befestigungen der Heilig-Geist-Zitadelle. Und das große weiße Zelt mittendrin, hoch über dem Abgrund, ist uns allen wohl vertraut.
Hinab geht es in den Talgrund der Alzette, hinein in den – nomen est omen – Ortsteil Grund. Eng umschließen die verwinkelten alten Häuser das leise dahin plätschernde Flüsschen. Einmal mehr eröffnet sich ein fast schon unwirklich malerisches Stilleben aus Natur und Stadt. Wobei: Hier unten ist es eher „Dorf“ - hoch oben über den Felsen, da ist die „Stadt“.