Als wir in Grund nach etwa 5 km die Alzette überqueren, ist das auch so etwas wie das Signal für den nächsten Streckenabschnitt: Und der folgt auf den nächsten 21,5 km weitestgehend dem Verlauf der Alzette, zunächst flussaufwärts, dann retour auf der anderen Seite flussabwärts.
Jenseits einer mächtigen Steinbogenbrücke werden wir auf einem Metallsteg durch eine riesige Baustelle gelotst. Großflächig wird der Uferhang zur Linken befestigt. Ein Stück weiter tauchen wir dann aber endgültig auf einsamen Pfaden in die Auenlandschaft entlang der Alzette ein. Auch außerhalb der Stadt setzt sich der schlängelnde Verlauf des Flusses fort, sodass ich ziemlich schnell die Orientierung verliere und keine Ahnung mehr habe, in welche Richtung ich mich nun eigentlich bewege. Durch gelbe Bodenpfeile ist aber stets gesichert, dass man den rechten Weg nicht aus dem Auge verliert.
Auf herrlichen, meist bequemen Naturpfaden geht es fast schon meditativ in leichtem Auf und Ab durch das frische Grün. Würze bekommt das Ganze ab und an durch Einlagen in Form von langen Treppen oder auch mal einen Schlenker über einen schlammigen Pfad den Hang hinauf und wieder hinab. Ein paar Asphaltstücke will ich nicht verschweigen, aber die fallen kaum ins Gewicht. Erst kurz vor dem 12 km-Punkt erwartet uns mitten im Wald die nächste Verpflegungsstation. Hier trennen sich die Verläufe des 27 km- und des 34 km-Kurses. Erstere werden über eine Brücke auf die andere Flussseite und sodann auf den Rückweg gen Luxemburg geschickt, die anderen dürfen der Alzette weiter flussaufwärts folgen. Wobei das Wort „dürfen“ durchaus angebracht ist, denn nun beginnt der eigentlich schönste Part des Laufausflugs entlang der Alzette.
Fast schon urwaldartig wird die Natur. Bäume und Felsen sind moosüberwuchert und säumen scheinbar unberührt die wurzeligen, sich mittendurch schlängelnden Pfade. Von der Alzette selbst bekamen wir bisher kaum etwas mit. Hier gurgelt sie aber schon mal direkt zu unseren Füßen.
Eine riesige, stahlseilgetragene Brücke, die Pont Victor Bodson, überspannt hoch über uns das Tal und stimmt uns darauf ein, dass wir uns menschlichem Siedlungsraum annähern. Hesperange heißt der Ort, in den wir einlaufen und nach 16,5 km den südlichsten Punkt unseres Alzette-Ausflugs erreichen. Im netten Stadtpark drehen wir noch eine Runde, bevor uns der nächste Verpflegungspunkt im Sonnenschein zu einer kleinen Pause bei Tee und frischem Obst lockt.
Der Rückweg gen Luxemburg flussabwärts ist anspruchsvoller, insbesondere höhenmeterintensiver, als der Hinweg, aber lauftechnisch und auch optisch abwechslungsreicher. Und anstrengender. Jähe Anstiege, die häufig nur im Schleichgang zu bewältigen sind, wechseln sich ab mit rasanten, oberschenkelmuskelquälenden Downhill-Passagen. Gerade hier zeigt sich, dass griffige Trailschuhe sehr viel wert sind. Und Kondition auch.
25,5 km liegen hinter uns, als wir wieder auf den schon vom Hinweg bekannten Weg treffen und via Baustelle in Luxemburg abermals im Ortsteil Grund einlaufen.
Das Feld hat sich mittlerweile so weit auseinander gezogen, dass ich bisweilen ziemlich einsam meine Bahnen ziehe. Entlang der zentralen Gasse durch die „Häuserschluchten“ in Grund, abends übrigens ein nettes Lokal- und Kneipenviertel, das man von der Oberstadt aus auch bequem per Lift erreichen kann, gelange ich direkt hinein in die Abtei Neumünster (km 27). Die ehemalige Benediktinerabtei ist heute ein chices Kulturzentrum mit Restaurant und reichlich Raum für Ausstellungen und Freiluftkonzerte vor der herrlichen Kulisse des Bockfelsens und der Oberstadt. Unser Weg führt mittendurch - durch den glasgedeckten Innenhof, über den riesigen Freilufthof, hinauf auf die Festungsmauern, und dann über die Alzette und direkt am weidenüberrankten lauschigen Flussufer entlang. Für einen Trupp japanischer Touristen gebe ich ein willkommenes Fotomotiv ab.
Der pure Idyllegenuss endet unvermittelt - mal wieder an einer steilen Treppe. Im Zickzack erklimmen wir Stufe um Stufe den Hang und kommen schließlich da an, wo wir schon bei km 3 gestanden sind: Hoch über der Alzette mit jenem einmaligen Ausblick auf das Tal und den Bockfelsen. Warum wir dort oben auch noch ein Metallgerüst auf- und wieder absteigen müssen, erschließt sich mir nicht so recht, aber wir machen eben alles mit. Wie ein Zwerg komme ich mir vor, als ich unter der gewaltigen Schlossbrücke hindurch in Richtung Pfaffenthal auf der anderen Seite des Bockfelsens trabe.
Unser nächstes Ziel sehe ich hoch über uns langsam näher rücken: Kirchberg. Auf einem nordöstlich der historischen Altstadt, durch das Tal der Alzette auch räumlich abgetrennten Plateau ist ein ganz neues Viertel entstanden, das in jeder Beziehung einen herben Kontrast zur Altstadt bildet: großräumig, modern, funktional - und international. Banken, Behörden, vor allem aber Europäische Institutionen wie etwa der Europäische Gerichtshof oder der Europäische Rechnungshof sowie weitere teils extravagante Repräsentativbauten prägen den Kirchberg. Bequem und schnell zu erreichen ist der Kirchberg von der Oberstadt aus über die weithin sichtbare Großherzogin-Charlotte-Brücke (Pont Grand-Duchesse Charlotte), aufgrund Ihrer Färbung auch „Rote Brücke“ genannt. Fast schon weltentrückt überspannt sie das Tal in 74 m Höhe. Aber die ist für uns natürlich keine Option. Wir müssen uns den Kirchberg läuferisch schon „erarbeiten“.
Vorbei an alten Festungsmauern und -türmen, erst noch auf Asphalt, dann auf einem Trampelpfad windet sich unser Weg durch dichtes Grün in Serpentinen nach oben. Lohnenswert ist einmal mehr der Blick in die Ferne, über Brücken hinweg in Richtung Oberstadt. Aber schon bald kommt auch Ablenkung von oben: Moderne Architektur spitzt durch das Blätterdach – wir haben unser Zwischenziel nach 29 km erreicht.
Eine ganz andere Welt tut sich vor unseren Augen auf. Der erste Eindruck: Ein Spitzdach des Internationalen Kongresszentrums, vor allem aber die grauscheckige, unregelmäßige Fassade des Melia-Hotels. Und: viel Raum. Leben „in die Bude“ bringt ein Versorgungsposten, mit Musik und guter Laune. Entlang der weniger schmucken Rückseite des Kongresszentrums setzen wir zu dessen Umrundung an.
Wenig später schon finden wir uns auf der Avenue John F. Kennedy, der breiten, zentralen Magistrale, die schnurgerade den kompletten Kirchberg durchschneidet. Direkt vor uns erhebt sich die Porte de l'Europe, zwei Zwillingstürme beidseitig der Avenue, und etwas im Hintergrund der mächtige Gebäuderiegel mit den goldschimmernden Türmen des Europäischen Gerichtshofs. Nur ein kurzes Stück folgen wir der Avenue, schon geht es, sozusagen immer an der Wand lang, an der sehr viel ansprechenden vorderen Glasfront des Kongresszentrum vorbei, direkt der Place de l'Europe entgegen. Fast schon surreal wirken ein paar einsame Bäumchen in der schier endlosen Weite des Platzes. Und auch wir kleinen Läufergestalten verlieren uns fast darin. Einen spektakulären Anblick bietet hier, nach 30 km, die Philharmonie. Das strahlend weiße Hauptgebäude dieses erst 2005 eröffneten Konzerthauses hat im Grundriss die Form eines Auges. 823 weiße Säulen, 20 m hoch, aber nur 30 cm im Durchmesser, prägen die Stahl-Glas-Fassade.
Nur ein paar Schritte weiter erwartet uns mit dem Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean, kurz Mudam, Luxemburgs Museum für moderne Kunst. Ein echter „Aufreger“ war dieses Museum bei seiner Errichtung 2006, denn es befindet sich auf dem Gelände des Fort Thüngen und nicht jeder findet die Einbettung des musealen Glaskomplexes in die alten Gemäuer ideal. Für mich bilden das Mit- und Nebeneinander von alt und neu einen durchaus reizvollen Kontrast.
Und weiter geht es, nun mitten durch die Wiesen und verwinkelten Festungsmauern des Fort Thüngen, einmal mehr mit Traumblick gen Ville Haut. Nur Momente später wechselt die Szenerie erneut: Zwischen Felsen und wildem Gestrüpp jagen wir auf einem gerölligem Weg hinab in die Tiefe. Und sind auf einmal mitten in Pfaffenthal. Noch beschaulicher und ruhiger als in Grund ist es hier, die Alzette scheint gar das Fließen eingestellt zu haben. Wäre da nicht das permanente Hintergrundrauschen, ertönend aus der Höhe von der über allem schwebenden „Roten Brücke“.
Auf Tal folgt Berg folgt Tal folgt ….. Auf diese Gesetzmäßigkeit war ich eigentlich eingestellt. Aber der nächste „Berg“ kommt nicht. Vielmehr stehe ich auf einmal vor einem eher unauffälligen, weit geöffneten Metalltor mitten im Fels.
Die letzten 1,5 km stehen bevor. Und die halten noch ein finales „Special“ für uns bereit: Den Aquatunnel. Auf 900 Metern Länge verbindet dieser Pfaffenthal mit dem Petrusse-Tal und unterquert dabei fast wie mit dem Lineal gezogen in 60 m Tiefe die gesamte Altstadt. Düster und dampfig ist es drinnen, das Licht spärlich, der Boden manchmal nicht zu sehen. Aber ein Erlebnis der besonderen Art ist es schon, durch die 4,4 x 3,25 m messende Höhle zu joggen. Der ebene Steinboden lässt sich gut belaufen. Ein mächtiges Rauschen dringt an mein Ohr. Es rührt von einer Felsöffnung mitten im Tunnel. Doch mehr sieht man auch nicht. Umso mehr von einer fröhlich tanzenden Mädel-Truppe, die in einer Nische vor dem Tunnelausgang bei lauter Musik die Ankommenden erwartet und anfeuert.
Genauso unspektakulär wie der Eingang ist der Ausgang im Petrusse-Tal. Kein Schild weist auf diese Attraktion hin. Das Tageslicht blendet geradezu, als wir wieder „in Freiheit entlassen“ werden und von einem Moment auf den anderen einen herrlichen Blick in das dschungelgrüne Tal werfen dürfen. Nicht erspart bleibt uns allerdings wenig später der finale Anstieg hinauf zur Place de la Constitution. Gerade die letzten Treppenzüge erweisen sich noch einmal als besonders fies - die in Slow Motion hinauf tapsenden „Läufer“ sprechen für sich.
Die finalen Meter auf dem Boulevard F.D. Roosevelt bieten aber Gelegenheit, noch einmal tief Luft zu holen und erhobenen Hauptes und mit letztem Anschein von Dynamik ins Ziel in der Cité Judiciaire einzulaufen.
Hey, war das ein Lauf! Anstrengend wie ein Marathon, aber sehr viel erlebnisreicher als die meisten von denen, die ich erlebt habe. Ihr seht schon: Da spricht die Begeisterung aus meinen Worten. Eine einmalige Stadt mit einer einmaligen Strecke – warum müssen es immer 42 km sein? Für den, der das Besondere beim Lauferlebnis sucht, ist diese Veranstaltung ein echtes MUSS.
Noch ein kleiner Tipp zum Abschluss: Das Grand Hotel Cravat ist Partner des Urban Trails und bietet Zimmer zu Sonderkonditionen an, Late Check out inbegriffen. Genial ist die Lage direkt am Petrusse-Tal und nur wenige Meter von der Fußgängerzone ebenso wie von Start und Ziel entfernt. Ein Ort zum Wohlfühlen - vor und nach dem Lauf.