Vom Hotelzimmer beobachte ich, wie eine dicke Kreidelinie durch die Fußgängerzone gezogen wird. Start ist um 10 Uhr - 86 Starter, 77 werden ankommen, Zeitlimit 8 Stunden.
Pflichtausrüstung: 1 Liter Wasser, Essbares, Handy und Taschenlampe. Es wird schon mal dunkel unterwegs. Chip ist in der Startnummer. Verpflegungsstellen? Keine Ahnung. Der 56 km-Lauf findet zum zweiten Mal statt, jeder Ultraläufer muss autark sein. Ich hoffe auf Kioske und Ausflugslokale für isotonische Getränke. Ich werde bitterlich enttäuscht.
Im 4er Schnitt geht’s durch die Fußgängerzone. Das kann niemals gut gehen! Nach 10 Fotostopps habe ich den Besenradler hinter mir. Mein Platzierung steht damit fest: Platz 77 und Letzter. Keiner der neun DNF´ler erreicht km 18.
Ich habe ihn kennengelernt, den Streckenplaner, den Namen im Ziel-Delirium aber vergessen. Es ist ein kleiner Wüsten-Ultraläufer, der eine diebische Freude daran hat, uns über jede Treppe, jeden Durchgang, durch jeden Tunnel und an jede Sehenswürdigkeit zu führen. Auf jedem schmalen Mauerabsatz sehe ich seine blitzenden Augen hinter mir, sein schelmisches Grinsen, wenn der Kurs plötzlich die Richtung ändert und nach einer eisernen Hintertür über dem Abgrund schwebt. Ein Trail lebt von den Ideen des Streckenplaners und hier hat ein Meister gearbeitet!
Den Streckenverlauf nachzuvollziehen ist unmöglich, sich zu verlaufen aber auch, da sehr viele Helfer an der Strecke sind und die Markierung bestens ist. Es geht hin und her, drunter und drüber, hoch und runter in einer Schlagzahl, dass du nach Gnade winselst und hechelnd über dem nächsten Geländer hängend, sehnsüchtig nach einem Sofa bettelst.
Luxemburg City besteht aus meterhoher Geschichte links und rechts der Petruss mit seinen urigen Sandsteinufern. Oberhalb laufen wir an den Sehenswürdigkeiten der Neuzeit vorbei: Fischmarkt und “Groussgaass”, Knuedler, Place d´´Armes, Clairfontain, Rathaus, Grossherzogliches Palais, Cercle Citè, Kathedrale unserer lieben Frau von Luxemburg, St. Michaelskirche, Johanneskirche, Kongegrationskirche.
Dann geht es eine Schicht tiefer in das Tal der Petruss mit der Bourbon-Schleuse von 1728, die das gesamte Tal zu Verteidigungszwecken fluten sollte, dann zur Bastion Beck, während der ersten spanischen Herrschaft erbaut, über uns Cornich, der schönste Balkon Europas, darunter die Schießscharten, die Spanische Türmchen, oder wo war das? Wo bin ich? Schon am Bock Felsen? Bock-Kasematten, Petruss-Kasematten, Wenzel-Rundweg, und ganz hinten die Quirinius-Kapelle. Oh, wie geil ist das denn!
Imposante, sympathische Stadt. Niemals würde ich die Reihenfolge der Sehenswürdigkeiten kapieren, dies ist ein unglaublicher Zeitrafferfilm. Ich versuche Fotos zu schießen, muss dabei auf die Treppen achten und auf Hundekacke. Wenn ich die nicht treffe, dann die beiden Besenradler, die sich auch schon mal mit den geschulterten Rädern in den hohen Zäunen der gepflegten Schrebergärten verfangen.
Radieschen auf spanischen Mauern! Luxemburg, lange spanisch, viel französisch, hat alte Mauern in neue integriert. Ich bin hellauf begeistert von dieser Stadt, von diesem Trail, der alles, was ich bisher erlebte, in den Schatten stellt. Ich bin dankbar, ein seltenes Hobby ausüben zu können, fit zu sein und berichten zu dürfen, laufe über schmale Mauersimse, steile Treppen, metallene Strukturen, die so stark wippen, dass es mich und die Besenradler aus dem Rhythmus wirft, über steile Abschnitte und mit funkelnder Begeisterung in den glänzenden Augen.
Hier wird Altes konserviert und mit Neuem kombiniert, Tore, Gänge, Verteidigungslinien und integrierte Trail-Paradiese von traumhafter Schönheit. Jede Baustelle, jedes Hindernis, jedes Stüfchen wird eingetrailt.
Bekloppte Hindernisse, und sei es nur eine Hundepinkelstelle, alles wird erlaufen. Und wenn nur der Anschein entsteht, es würde zu langweilig, dann hat man Stahlkonstruktionen aufgebaut, die nur dazu dienen, die Trailer zu schikanieren. Mal müssen wir drunter, mal drüber. Wir springen freudestrahlend, wie ein junges Fohlen auf der Weide, lachen in die grelle Sonne und betreiben Hochleistungssport zwischen uralten Befestigungsanlagen.