Auf schmalem Trail geht es weiter durch den Wald. Es geht teilweise steil bergauf und bergab. Ich schaue den Hang hinunter. Fließt da unten ein brauner Bach? Zwischen den Bäumen hindurch kann ich es nicht richtig erkennen. Ein paar Kilometer und unzählige auf und ab`s später sehe ich, dass es ein mit braunem Sand belegter Weg ist. Auf dem laufe ich nun quasi wieder die ganze Strecke zurück. Ein Helfer weist mich unvermittelt nach rechts. Es geht steil den Berg hinauf. Und dann, ganz klar, wieder hinunter. Zwei Mountainbiker überholen mich. Wahnsinn, ich komm hier zu Fuß kaum runter und die radeln!
Die gelaufenen Kilometer werden alle 5 km angezeigt. Sehnsüchtig erwarte ich die 35. Ich bin schon ganz schön platt. Bei km 37 ist die nächste VP. Sehe ich recht oder gibt es hier Cola? Die Helfer stellen ihren privaten Vorrat den Läufern zur Verfügung! Ich kann mich gar nicht genug bedanken. Hinter mir kommt jetzt noch ein Läufer. Alain trifft ein, als ich gerade gehen will. Na, der wird mich ja bald einholen und so laufe ich schon mal los.
Die nächsten Kilometer gestalten sich kurzweilig. Mal ist Alain vor mir, mal hinter mir. Wir haben zwar unterschiedliche Lauftempi, finden aber immer wieder zueinander. Es ist schön, etwas Gesellschaft zu haben.
Ein Helfer weist nach rechts. Klar, es geht wieder den Berg hinauf. Auf dem extrem steilen Abstieg bereue ich kurz, auf Trailschuhe verzichtet zu haben. Da es trocken ist, schaffe ich es gerade noch und erreiche unbeschadet die Straße. Es geht wieder an der Alzette entlang. An einer Kreuzung weisen unsere gewohnten Pfeile nach rechts - den Berg hinauf. Da Alain in Sichtweite vor mir ist, muss ich mich nicht auf die Wegsuche konzentrieren. Der Trail mündet auf einen gepflasterten Weg, der in Serpentinen nach oben führt. Die Stufen alle paar Meter sind eine willkommene Abwechslung. So geht es auf der anderen Seite wieder hinunter.
Die Rue Godchaux ist nach der Industiellenfamilie Godchaux benannt, die im 19 Jahrhundert hier im Tal der Alzette eine große Tuchfabrik betrieb. Nur noch wenige Gebäude sind erhalten. Hinter der Schleifmühle steht ein Helfer. Ja, richtig, es geht wieder bergauf. Im Dörflein Hamm überqueren wir die Straße (km 45).
An der VP gibt es nur Wasser. Komisch, bisher war immer mindestens Iso, dazu Obst und Kekse im Angebot. Gut, dass ich, wie vom Veranstalter vorgeschrieben, selbst etwas dabei habe. Beim nächsten Aufstieg ist plötzlich Guy hinter mir. Der belgische m70 Läufer kommt schnellen Schrittes vorbei. Ich frage ihn, wo er so lange war. Bei diesem Tempo müsste er mich ja schon lange überholt haben. Er weiß auch nicht so recht, meint aber, dass nur noch ein Läufer hinter ihm sei, mit den Besenradlern im Gepäck. Gemeinsam kommen wir oben an. Luxemburg liegt zum Greifen nah unter unseren Füßen.
Durch den Anblick motiviert laufen wir zügig bergab. Alain ist auch wieder da. Unten erkenne ich die Strecke wieder. Hier waren wir heute Morgen schon. Konzentriert beachte ich die Pfeile, die nun aus verschiedenen Richtungen kommen. Alles ist logisch aufgebaut, aber mit meinen müden Füßen habe ich Angst die falsche Strecke zu erwischen. Guy vor mir ist eine große Hilfe bei der Wegsuche. Wir überholen Amir, der heute seinen ersten Ultra läuft. Er ist bereits im Gehmodus, kann sich aber wieder aufrappeln, so dass ich einen neuen Begleiter habe.
Teilweise kommt mir die Strecke bekannt vor. Wir befinden uns im Stadtteil Grund. Es geht um eine Kurve und die Abtei Neumünster liegt vor uns. Nachdem die alte Benediktinerabtei Altmünster während der Kriege zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich, im 16. Jahrhundert zerstört wurde, errichteten die Benediktinermönche 1606 ihre neue Abteikirche und die zugehörigen Abteigebäude im Stadtteil Grund. Nach wechselvoller Geschichte und größeren Restaurierungsarbeiten wurde die gesamte Anlage soziokulturellen Zwecken zugeführt und bildet heute den „Kulturtreffpunkt Neumünster“. Durch das Tor gelangen wir in eine große Halle, dann geht es hinten wieder hinaus. Wir müssen über einen großen rechteckigen Platz. Hier im Cafe sind alle Plätze belegt, aber keiner nimmt Anteil an unserem Schicksal. Also nichts wie weg.
Wir überqueren erneut die Alzette und steigen durch Horden von Touristen die schmalen Treppen zum Fluss hinunter. Am Ufer entlang laufend, liegt nun die Klosterkirche Neumünster postkartengleich vor uns. Es geht schon wieder steile Treppen hinauf. Die Straße ist mir bekannt und fremd zugleich. Also Treppe hoch und auf der anderen Seite wieder herunter. Und jetzt unter der Schlossbrücke durch? Hinten geht es bergab. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Eine Passantin versichert mir glaubhaft, dass es tatsächlich hier hinunter geht. Helfer würden mir dann unten weiterhelfen. Amir überholt mich. Zusammen finden wir die Pfeile.
Es geht leicht aber stetig bergauf. Von weitem sehen wir einen Helfer. Ich weiß schon was jetzt kommt: es geht links, steil den Berg hinauf. Der keine Trail ist mächtig steinig. Ein Blick zurück sagt mir, dass nun die Besenradler endgültig in Sichtweite sind (km 50). Nach kurzem Aufstieg erreiche ich eine Straße und eine andere Welt: das Plateau Kirchberg ist der modernste Teil der Stadt Luxemburg. Hier befinden sich unter anderem die sehenswerten Gebäude des Europäischen Gerichtshofs, des Europäischen Rechnungshofs, der Europäischen Kommission, der Europäischen Investitionsbank und des Parlaments der Europäischen Union. Der Kirchberg wird daher auch als Europaviertel bezeichnet. Darüber hinaus befindet sich auf dem Kirchberg das Europäische Konferenz- und Kongresszentrum, die Philharmonie Luxembourg und die Messe Luxexpo.
Wichtiger ist aber für mich die Verpflegungsstation. Es gibt Rivella. Im Vorbeilaufen greife ich nach einer ganzen Flasche. Dann geht es an den modernen Gebäuden entlang. Die Pfeile zeigen nach links, es geht eine Wendeltreppe am Parkhaus hinauf, und oben dann scharf links. Das ganze Kirchberg-Panorama liegt nun vor uns. Hier herrscht reger Verkehr. Auf dem Gehweg laufen wir zwischen den Hochhaustürmen hindurch und dann auf den vergleichsweise ruhigen Place de l'Europe vor der Philharmonie. Das Konzerthaus wurde im Juni 2005 eröffnet und bietet Platz für 1500 Menschen.
Unsere Wegmarkierungen sind auf dem weiten Platz schwer zu finden. Vor allem, weil ich immer wieder von der außergewöhnlichen Architektur abgelenkt werde. Neben dem Hauptgebäude liegt der gleichfalls weiße, aber muschelförmige Kammermusiksaal Salle de Musique de Chambre für 302 Zuhörern.
Hinter den futuristischen Bauwerken geht es bergab in ein parkähnliches Gelände. Das Museum für Moderne Kunst liegt hinter Bäumen als wir vom Weg plötzlich auf kurzgemähtem Rasen kommen. Wir genießen wieder freie Sicht auf das grandiose Stadtbild von Luxemburg. Unbemerkt sind wir auf dem Gelände des Fort Thüngen gelandet. Das Fort Thüngen, auf Luxemburgisch Dräi Eechelen (dt. Drei Eicheln) genannt, ist ein Teil der historischen Festungsanlagen der Stadt Luxemburg. Das Fort ist benannt nach dem österreichischen Festungskommandanten Freiherr Adam Sigmund von Thüngen. Es war von einem tiefen Graben umgeben und konnte vom Fort Obergrünewald aus durch einen 169 m langen unterirdischen Felsengraben erreicht werden. In den Jahren 1870 bis 1874 wurde es abgerissen. Einzig die drei runden Türme, deren Dachspitzen überdimensionale Darstellungen von Eicheln zieren, und die 1991 wieder freigelegten Grundmauern des Forts blieben erhalten.
In den 1990er Jahren wurden die Außenmauern des Forts komplett rekonstruiert. Die Pläne von Ieoh Ming Pei für das Musée d'Art Moderne Grand-Duc Jean (Museum für Moderne Kunst) sahen eine Integration des Forts in das Museumsgebäude vor. Dies hat die Bürgerinitiative „Fanger wech vun den Dräi Eechelen“ erfolgreich verhindert.
Für uns geht es auf der Rückseite des Forts auf steilem Trail bergab. Auf einmal stehe ich vor einem ca 50 cm tiefen Absatz. Wie komme ich da hinunter? Amir reicht mir die Hand. Jetzt traue ich mich vorsichtig hinunter zu springen. Geschafft. Es geht dann noch mal bergauf. Zum letzten Mal sehen wir Luxemburg unter uns. Eine Straße bringt uns hinunter nach Pfaffental. Helfer weisen uns links und rechts und dann über den Fluss. Verdutzt nehmen wir wahr, dass wir durch eine Baustelle müssen. Im Augenwinkel kann ich die Besenradler heran rauschen sehen.
Wir erreichen den letzten Höhepunkt unseres Laufs: den Aquatunnel. Er verbindet das Pfaffental mit dem Petrusstal. Mit 900 m Länge, 4,40 m Breite, 3,25 m Höhe und liegt er im Durchschnitt 60 m unter der Stadt Luxemburg. Die Temperatur im Tunnel beträgt das ganze Jahr durch von 12 bis 14 °C.
In den 1950er Jahren gab es einen 3,3 Km langen Sammelkanal, für den das Abwasser wegen der ansteigenden Bevölkerungszahl schnell zu kein wurde. Ein Neuer musste her. Im Juli 1961 begannen die Arbeiten, und knapp zwei Jahre danach, im August 1963, war der Tunnel fertig in den Fels gesprengt und die Kanalroute verlegt. Auch der Zivilschutz zeigte damals Interesse, den Tunnel als Luftschutzbunker ausbauen zu lassen, was auch teilweise geschehen ist. Der Tunnel unter der Stadt hat auch Verbindung zur Festung Luxemburg: Es gibt einen Zugang zum alten Brunnen des Place d’Armes. Heute können Schulklassen oder Privatleute bei Führungen durch den Tunnel teilnehmen.
Der Tunnel ist beleuchtet, so dass ich auf meine eigene Lampe verzichten kann. Ich ignoriere die gruseligen Pfützen und plätschernden Geräusche und komm gut voran. Von weitem kann ich eine Gruppe Personen entgegenkommen sehen. Einer der Besenradler überholt mich nun. In einiger Entfernung sehe ich, wie der Helfer mit der Gruppe verhandelt. Dann kehren sie um. Der Tunnel ist heute nur für Läufer geöffnet. Schon von weitem ertönt Musik. Der Tunnel endet mit einer langen Treppe. Erleichtert laufe ich ins Freie. Der Radler zeigt nach links. Es geht nochmal flach und geradeaus. Das Ziel kann nicht mehr weit entfernt sein. Auf jeden Fall befindet es sich aber ein paar Meter höher. Wir sind ja immer noch im Tal.
Endlich – der Pfeil weist nach links auf die Treppe. Von nun an geht es bergauf. Über mir höre ich Leute rufen und klatschen. Die meinen tatsächlich mich. Meine Begleiter habe ich irgendwo im Tunnel verloren. Vor mir erkenne ich den hohen Felsen auf dem sich der Place de la Constitution befinden muss. Das setzt letzte Kräfte frei. Zügig steige ich eine Stufe nach der anderen. Der Jubel wird lauter. Über mir sehe ich eine lange Reihe von Personen die mich mit lauten Anfeuerungsrufen die Treppe hinauf peitschen. Oben bleibe ich erst mal stehen und genieße den Jubel. Dann noch ein paar Meter auf der Straße. Das Ziel ist erreicht.
Mein Aufruf an alle Trailer und solche die es werden wollen: kommt nach Luxemburg. Ihr werdet es nicht bereuen. Hier ist für jeden etwas dabei. Einsame Waldtrails, knallharte Steigungen, steile Abstiege; dazu Kultur satt. Und eine Streckenlänge, die als Trainingslauf, aber auch als Saisonhöhepunkt taugt. Die perfekte Organisation hab ich ja schon mehrfach erwähnt. Also, packt Eure Rucksäcke, wir sehen uns!