Die Oberschenkel schmerzen, mein Gang ist steif, als ich die Treppe zum Frühstück hinunter gehe. Ich schaue mir den Streckenplan an. Das Höhenprofil erinnert mich an mein letztes EKG. Nur noch 24,7 Kilometer, nur noch einige steile Anstiege, ein paar klitzekleine Geländepassagen in der Mühlmark und schon ist die dritte und letzte Etappe mit 758 Höhenmetern geschafft. Selbst umherstreunende Hunde legen meist mehr als 20 Kilometer am Tag zurück, murmele ich über meinem Eszet-Schnitten-Brötchen.
Ich parke mein Auto im Zielbereich von Alzenau und nehme die Kahlgrundbahn zum Start nach Mömbris. Es ist 9:45 Uhr, als ich an der Haltestelle des unterfränkischen Mömbris-Mensengesäß, nahe der bayrisch-hessischen Grenze nach zwanzig Minuten Fahrzeit aussteige. Die Startnummer war mein Fahrschein. Die Bahn verbindet den Kahlgrund mit Hanau und Frankfurt am Main. Wochentags fährt sie stündlich, aber heute am Sonntag nur alle zwei Stunden. Wehe dem, der hier nicht richtig geplant hat.
Nach wenigen Schritten bin ich auch schon am Startbereich in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes angelangt. In den Kirchen wird bereits gepredigt, gesungen und gebetet. Gebetet wurde auch in dem sogenannten „Pesthäuschen“, einer winzigen Kapelle, nur wenige Häuserecken von hier entfernt. Die Gebete wurden erhört, wenn auch nur elf Personen aus der Bevölkerung die die Pest von 1619 überlebten. Heute sind die alten Fachwerkhäuser liebevoll restauriert, die kleinen Boutiquen geschlossen, die Restaurants noch nicht geöffnet.
Ganz anders am Startbereich, dort ist heute quasi verkaufsoffener Sonntag. Unwillkürlich zieht mich ein Pavillon mit Trail-Schuhen magisch in seinen Bann. Mal ehrlich, wer steht nicht auf neue Sport-Schuhe? Wie viele ich besitze, sage ich nicht, aber es können nie genügend sein. Manche Modelle bleiben fast ungetragen im Schrank und schnuppern niemals die frische Erde oder den heißen Asphalt. Andere wiederum trage ich nur als schmückendes Beiwerk. Jeder hat seine heißgeliebten Lieblingstreter. Aber irgendwann hat auch deren letztes Läuferstündchen geschlagen und sie wandern schweren Herzens mit Löchern in die Tonne.
Immer mächtiger wird die Anhängerschar von Trail-Läufen und damit steigt auch die Menge von Laufschuhmodellen am Markt. Trainings-, Triathlon-, Wettkampf-, Ultra-, Natural- und Trail-Running-Schuhe mit teilweise alle möglichen und unmöglichen technischen Raffinessen, in allen leuchtenden Farben. Wirklich übersichtlich finde ich das nicht.
Eine logische Konsequenz also, dass der norwegische Hersteller VIKING, in diesem Jahr der Titelsponsor bei KEEP ON RUNNIG, jedem interessierten Läufer gleich hier vor dem Wettkampf seine unterschiedlichsten Modelle zum Testen zur Verfügung stellt. Hallo! Da bin ich doch sofort dabei.
Keine halbe Stunde später: Wieder mischt Svens klare Stimme Mömbris, den „Markt der Möglichkeiten“, gehörig auf. Die Anwohner bleiben gelassen. Warum auch sollte man etwas bewundern, was man nicht kennt und das einem nur wenig sagt? Die zahlreich tickenden athletischen Zeitbomben stehen kurz vor der Explosion. Es sieht fast so aus, als wollten sich alle hier für die Olympischen Spiele qualifizieren. Meine Stimmung hellt sich endlich wieder auf. Als hätte ich nach dem gestrigen Tag etwas abgestreift und dort liegengelassen. Wo ist eigentlich Supermann?
Steiler Anlauf mit steilen Anstieg. So steil, dass die Horde der hechelnden Läufer schon am Ortsrand zu unfreiwilligen keuchenden Walkern werden. Schließlich kommt die Walkinggruppe ganz zum Stillstand. Ein Überholen ist unmöglich. Zeit zum Durchatmen und Zuhören. Der Läufer vor mir grinst und fragt laut, ob wir jetzt hier alle warten müssen bis jemand vor uns mit Pippi machen fertig ist. Stefan Schlett zuckt mit den Schultern und gibt entspannt seinen Senf dazu: „Gut, dass wir hinten laufen, da haben die vor uns schon die Zecken eingesammelt“.
Als einer der erfahrensten Läufer im Feld weiß er eben, wann man wo an welcher Stelle sein muss. Langsam findet die Walking-Gruppe zum Laufrhythmus zurück.
Über den Kahlgrund führt die Strecke an tausenden Obstbäumen vorbei. An allen Hängen stehen hier die Zwetschen-, Apfel- und Kirschbäume. Der Obstanbau war nicht freiwillig und wurde von den Behörden unter Androhung von Strafe bei Nichtbefolgen erzwungen. Dazu muss man wissen, dass der Kahlgrund noch bis ins 19. Jahrhundert zu den ärmsten Gegenden Deutschlands gehörte. Diese Maßnahme linderte die Hungersnot und Arbeitslosigkeit.
Ein leichter Windzug lässt weiße Blütenblätter auf mich schneien. Nur einen Wimpernschlag später sind alle Läufer im Wald verschwunden. Abwechslungsreich führt die Strecke rauf und runter.
Hoher Fitness-Faktor durch unfreiwillige Tempowechsel und komplexe Bewegungen. Das ständige Beobachten der Strecke schult die Konzentration, das Klettern über ein Baumskelett die Koordination. Nicht unbedingt selbstverständlich und vielleicht auch ein wenig Leichtsinnig von mir, aber mit meinen VIKING Testschuhen bin ich auf Anhieb richtig happy. Kein Stein drückt durch die Sohle und mit dem Gripp macht das Abwärtslaufen noch mehr Spaß. Ich laufe schneller und schneller. Jeder Fotograf, der die Natur so authentisch, die Läufer so natürlich und die Strecke so lebendig zeigen will, braucht Gelassenheit und Ruhe. Die aber lasse ich meinem Fotografen heute nicht.