Am Anfang stand die Idee eines seinerzeit halbwegs erfahrenen Marathonläufers, rund um sein Dorf im rheinischen Westerwald einen Marathonlauf zu veranstalten und damit Läufern aus Nah und Fern die Möglichkeit zu geben, seine Heimat mit den vom ihm als wunderbar empfundenen Laufwegen kennenzulernen. Daß daraus aus vielerlei Gründen ein Staffelmarathon auf einer dörflichen flachen 2 km-Runde wurde, konnte den zunehmend Trail-Begeisterten nicht wirklich zufriedenstellen. Wie aber bekommt man so etwas mit überschaubarem Aufwand hin, ohne seine Helfer im Verein nach Malberglauf und Staffelmarathon ein drittes Mal zu (über)fordern?
Die Lösung kam in Gestalt des Erlebnisses Rheinsteig-Erlebnislauf, auf dem ich – um wen sollte es sich sonst handeln – erstmals das entspannte Laufen in einer halbwegs homogenen Gruppe über ultralange Distanzen kennen- und schätzen lernte. So schrieben mein Freund Josef und ich vor zwei Jahren 65 km mit 2.100 Höhenmeter aus und luden erstmals Mut-zum-WUT-Willige ein. Die dreißig Startplätze waren im Handumdrehen weg, etlichen Laufwilligen mußte ich schweren Herzens absagen, denn ein Vor-Läufer und drei Verpfleger müssen das Vorhaben und sich auch erst einmal selber testen. Die Resonanz führte im Folgejahr zu fünfzig Startplätzen, das Ergebnis war das gleiche. Auch die diesjährigen siebzig waren in weniger als vier Wochen vergeben. Ich muß ehrlich zugeben: Das hat uns schon ein wenig stolz gemacht.
Rund sechzig Trailer plus Ultrahund, und damit mehr als erwartet, trudeln morgens ab 7 Uhr an der Waldbreitbacher Sporthalle ein. Viele kennen sich bereits oder machen sich bekannt. Josef, mein Freund und Mitorganisator, steht mit seinem Sohn und Jochen schon parat, gibt die Startunterlagen und Shirts aus, nimmt Gepäck entgegen, das markiert im Anhänger des Verpflegungsbusses mitgeführt wird, und hat auch für die Kaffeetanten und –onkels ein Heißgetränk parat, das bei geringem Frost dankbare Abnehmer findet. Die flammende Rede des mitlaufenden Veranstalters, der führenden Null, fällt erfreulicherweise kurz aus und nach dem obligatorischen Gruppenfoto geht’s los.
Auf einer Buckelbrücke überqueren wir mit der Wied erstmals die Namensgeberin unseres Laufs und sind auf dem zweiten km der der Zivilisation flugs entflohen. Schnell wird der Weg zum Wasserbehälter, von dem man rückwärtsgewandt einen schönen Blick auf Hausen/Wied und Glockscheid auf der gegenüberliegenden Wiedhöhe hat, steil und wir verfallen in den Gehschritt. Dies ist die heutige Devise: Bergauf zu gehen, im Flachen zu joggen und bergab zu laufen, so lassen sich auch für Ultra-Ersttäter – dazu später mehr – Strecken oberhalb der Marathonlänge sicher schaffen. Wir haben heute mehrfach Glück: Das gute, vorfrühlingshaft warme Wetter der letzten Tage hat uns zwar verlassen, aber für ein deutliches Abtrocknen des Geläufs gesorgt und der angekündigte Regen verschont uns fast vollständig.
Am Wasserbehälter ist auch der zweite km richtig steil, sehr schnell werden wir warm, die ersten Singletrails, vulgo: Trampelpfade, erfreuen das Publikum. Über eine Almwiese, auf der heute die Rindviecher fehlen und die früher einmal Skipiste war (wegen der zunehmend wärmer werdenden Winter als „Skipiste Immergrün“ verspottet) erreichen wir die Skihütte Malberg, ein beliebtes Wanderziel und Schlußpunkt unseres Malberglaufs (7. August). Vom Ausblick reißen wir uns los und werfen am Gipfelkreuz einen Blick in den Malbergsee. Das Loch des Basaltabbaus früherer Tage hat sich mit Wasser gefüllt, Mutige nehmen im Sommer verbotenerweise gerne ein kühles Bad darin und Geschichtsträchtige gedenken bei der Überfahrt nach Sylt auf dem Hindenburgdamm der vormaligen Malbergspitze, denn viele der Brocken, die man hier herausgerissen hat, bilden heute diese Landverbindung.
Ein schöner Wurzelweg führt weiter auf drei km Waldautobahn, vorbei an der Kapelle Gebildseichhäuschen (deren Dachstuhl ist aus der Krone einer Eiche gebildet worden), der Turnerhütte Rheinbrohl und der Kaisereiche, die Ihro Gnaden Willi II eigenhändig gepflanzt haben soll, bergab ins Nonnenbachtal. Wie gewonnen, so zerronnen, auch das könnte das Motto des heutigen Tages sein, denn der Weg ist ein einziger Wechsel von Auf und Ab.
Nicht ganz einfach ist es für mich, die Meute zusammenzuhalten. Die schnellen Hirsche müssen laufend gebremst und auf die Langsameren, zu denen ich selber gehöre, aufgepaßt werden. Bezüglich meiner Person ist es einfach, denn es gilt: „Wo ich bin, ist vorne!“. Heißt: Wer vorläuft, tut dies auf eigenes Risiko. Hinten laufen mit Roland und Sigrid (qualifiziert für die 24 h-WM in Turin) freiwillig die vermutlich stärksten Läufer, worüber ich sehr froh bin und übernehmen damit gerne eine wichtige Funktion. Beide sind mit einigen anderen, darunter Sigrids 76jährigen (!!!) Papa Norbert, der im vergangenen Jahr die 100 km noch unter zehn Stunden gepackt hat, bereits zum dritten Mal dabei. Auch das erfüllt mich mit Stolz.
Lange führt der Weg wieder aufwärts bis zur Wüstung Rockenfeld. Unterwegs sind die Abenteuerlustigen hocherfreut, eine erste kleine Klettereinlage über vom Windbruch gefällte Kiefern machen zu dürfen. Gerne geschehen, ich weiß, Ihr liebt so etwas. Hier stand, einsam im Wald verloren, bis Mitte der Sechziger Jahre, ein schmuckes, aber aussterbendes Dörfchen, dessen letztes Haus mit dem Tod des allerletzten Einwohners 1995 komplett beseitigt wurde. Die US-amerikanische Öl-Dynastie, die Rockefellers, stammen hierher. War mal eine 500.000 €-Frage bei Günther Jauch, warum wurde sie nicht mir gestellt?
Flugs geht es den langen Weg wieder bis ganz ins Tal hinunter auf den Wanderparkplatz nach Datzeroth, wo nach reichlichen zwei Stunden Josef & Co. zum ersten Mal mit dem Verpflegungsbus stehen. Die Auswahl ist groß und abwechslungsreich, wir wissen, auf was Ultras stehen. Als besonderer Service sind alle Getränke warm, eine Wohltat bei der frischen Temperatur, und Kaffee („Das hat mir mehrfach das Leben gerettet!“ habe ich mehrmals gehört) gibt’s auch wieder. Mehr als zehn Minuten Pause kann ich der Mann- und Frauschaft nicht gönnen und blase zum Auf bruch, der jetzt noch leicht fällt. Das allerdings wird sich noch deutlich ändern.
Über die erhaltene historische Wiedbrücke (seine Weigerung, diese in den letzten Kriegstagen noch zu sprengen hat dem damaligen Bürgermeister die standrechtliche Erschießung eingebracht), streben wir dem Wald zu. Am Rechtsknick des Wegs erfreut ein schöner Ausblick über die Wied und Bürder mit seinem lauschigen Campingplatz die Sinne, bevor ein Hammertrail alle zum Verstummen bringt. Oben angekommen, lohnt ein wunderbarer Blick auf die noch eben überquerte Wiedbrücke und den Ort der ersten Versorgung, an die schon nichts mehr erinnert.
Ein Höhenweg, vornehmlich über Wiesen, wunderbar weich zu belaufen, bringt uns in den Niederbreitbacher Ortsteil Wolfenacker, eine begehrte, aber einsame Wohngegend. Immer weiter hinauf am Hegerhof vorbei biegen wir kurz vor Kurtscheid wieder in den Wald. Vom Waldweg führt eine meiner Lieblingsstrecken, schmal, steinig und wurzelig zur 1170 erbauten Neuerburg, die wohl nicht jeder registriert hat. Sie hat dem Neuerburger Land seinen Namen gegeben, ist in Teilen nach dem Verfall wiederhergestellt worden und in den Sommermonaten zumindest teilweise bewohnt.
Weiter bergab durchqueren wir den Kelterhof. Ja, die Waldbreitbacher Franziskanerinnen hatten auch Durst, aber der Wein war wohl so sauer, daß die Weinwirtschaft bald wieder aufgegeben wurde, indes der Name ist geblieben. Ein schöner Wiesenweg führt ins Fockenbachtal, Schauplatz des Niederbreitbacher Volkslaufs, der im Juli schon zum 35. Mal durchgeführt werden wird. Wir passieren eine kleine Kapelle, die 2004 in einer Gemeinschaftsaktion zu Ehren der Gründerin und ersten Generaloberin der Waldbreitbacher Franziskanerinnen, der seligen Margaretha Flesch, errichtet worden war. Von ihrem Erbe zehrt die Region noch heute. Erneut ist Trampelpfad angesagt, an dessen Ende eine Holzbrücke den Fockenbach überspannt.
Es dauert ein paar Minuten, bis ich wieder alle zusammenhabe, dann heißt das nächste Ziel Ackerhof, der uns mit jeder Menge gesunder Landluft begrüßt. Nix wie weg und nach ein paar hundert Asphaltmetern wieder hinauf zu einem Aussichtspunkt, der einen wunderbaren Blick auf die Neuerburg und den Kelterhof („Was, da waren wir noch eben?“) ermöglicht. Wenig später erreichen wir Glockscheid und auf dem Klosterhof erwartet uns Josef mit seinen Helfern zur zweiten Verpflegung. Aaaah!
Linkerhand des nächsten Pfades sehen wir unseren Start- und späteren Zielpunkt wieder und wenn meine Frau jetzt gerade aus dem Küchenfenster blickt, sieht sie eine lange Reihe kleiner bunter Gestalten den Hang entlanglaufen. An den historischen, 800 Jahre alten Drei Weihern, streifen wir Waldbreitbach, durchqueren kurz ein Wohngebiet auf der nächsten Steigung und sind unmittelbar hinter einem Haus wieder zurück in der Wildnis. Der Unterschied könnte nicht größer sein! Ich genieße diesen Weg, er gehört zu meinen absoluten Lieblingsstrecken und ein Blick in die Gesichter der Mitläufer spricht Bände: Wir sind uns in der Bewertung einig.
Nach Passieren einer weiteren Holzbrücke führen die beiden nächsten km hoch hinauf auf den Hochscheider Seifen, an dessen Ende auf dem Wurzelweg hohe Konzentration gefordert ist. Ganz schmal geht es hinauf zum weißen Kreuz am Bärenkopp, von wo man einen herrlichen Blick auf das Dorf hat und der für mich, wenn man so etwas benötigte, das Wahrzeichen unseres Ultratrails wäre. Nach der Durchquerung von Verscheid begleiten uns auf einer Koppel je zwei Pferde und Ponys, wir tauchen in den Wald ein und dann klingelt mein Handy, Roland ist dran. Ein Pferd ist ausgebrochen, sie versuchen es einzufangen und dem Besitzer zu übergeben. Nach ein paar Minuten des Wartens einigen wir uns darauf, daß die Masse schon einmal weiterzieht, sie haben den Track gespeichert, werden den Weg also finden und am nächsten VP wieder zu uns stoßen. Genauso wird es geschehen, alles wurde gut.
Am Ende des Fockenbachtals warten auf dem Grundstück der Fockenbachmühle viele Hunde (eingesperrt) und ein ansehnlicher Ziegenbock (nicht eingesperrt), der mit Respekt vorsichtig umgangen wird. Zum x-ten Mal hinauf erreichen wir schließlich in Nassen zum dritten Mal die Labestelle, das Wiederanlaufen beginnt bei den ersten schon ein wenig wehzutun.
Kurz nach dem erneuten Loslaufen gilt es, einen gerne zelebrierten Höhepunkt zu genießen: Die Ultrataufe. Ganze acht Teilnehmer sind noch nie weiter als 42,195 km gelaufen und überschreiten jetzt die Grenze in eine neue Dimension. Die alten Hasen stehen Spalier und machen die Welle, während die Delinquenten mit glücklichen Gesichtern nach ein paar weiteren Schritten in den Kreis der Ultras aufgenommen werden. Ich habe großen Respekt vor ihnen, da sie ihren läuferischen Horizont heute um ganze 50% erweitern werden. Bei mir hat es seinerzeit „nur“ zum Fünfziger beim Albmarathon gereicht, ich erinnere mich noch gerne an meinen Stolz, diesen anspruchsvollen Lauf geschafft zu haben und das auch noch in unter fünf Stunden.
Breitscheid ist gestreift, das Roßbacher Häubchen unser nächstes Zwischenziel. Das kleine Abenteuer ist für einige, die schon etwas wackelig und/oder nicht ganz schwindelfrei sind, eine echte Herausforderung, die sich nicht alle antun. Die aber verpassen einen teilweise seilgesicherten Steilaufstieg auf den Basaltkegel und bringen sich um einen atemberaubenden Rundumblick. „Selten habe ich schönere Gegenden in Deutschland gesehen!“, resümiert schon hier ein Teilnehmer. Schade, mit Sonne wäre es perfekt gewesen, aber wir dürfen nicht meckern. Im letzten Jahr haben wir nur Nebel gesehen und bei der Erstaustragung war ich gezwungen, diesen Programmpunkt wegen Schnees und Eises aus Sicherheitsgründen streichen.
Zur Neschermühle hinab kann wieder überwiegend gelaufen werden, der darauffolgende km bietet wieder Trail vom Feinsten. Lange ziehen sich die nächsten km zur vierten und letzten Verpflegungsstelle an der Arnsau, aber irgendwann sind auch die geschafft. Noch während geschlemmt wird, werfen einige bange Blicke in den gegenüberliegenden Hang. Zu recht, wie sich gleich zeigen wird. Das Anlaufen fällt jetzt schwer, einige sind vernehmlich am Stöhnen.
Der brutalste km des ganzen Tages bildet den Anfang der finalen Etappe. Ich werde nie vergessen, wie beim ersten Mal einige schnelle Hasen den Berg hinaufgesprintet sind, während meinesgleichen sich an den Zähnen hochzog. Das Bild, das wir heute abgeben, unterscheidet sich von dem geschilderten kaum. Ich bewundere diejenigen mit ehrlichem Neid, die nach 54 km hier noch laufen können, Respekt! Die Anstrengung versüßt uns ein anschließender Traumpfad, der aber im wesentlichen von den meisten auch nur gewandert werden kann, Laufen ist nicht mehr. Lange dauert es diesmal, bis ich alle wieder zusammenhabe, weit hat sich das Feld auseinandergezogen. Schwerfällig setzen sich viele langsam wieder in Bewegung, die Dynamik hat auf breiter Front den Rückzug angetreten.
Der vorletzte große Abstieg über Reifert liefert noch einmal phantastische Rundblicke übers mittlere Wiedtal, linkerhand können wir das Häubchen, auf das wir uns noch vor kurzem hinaufgeschleppt haben, ausmachen. Steil geht es hinunter bis ins Wallbachtal, das auf gleicher Höhe wie das Wiedtal verläuft. Und schon führt der Weg wieder hinauf, belohnt werden wir vom Anblick des Schlosses Walburg, das bestens erhalten und mit großem finanziellen Aufwand restauriert privat bewohnt wird. Wie auf einer Perlenschnur aufgereiht freuen wir uns über den nächsten Trampelpfad, der uns bis nach Over, wortwörtlich „over“ Waldbreitbach bringt. Nun geht es das letzte Mal, diesmal wirklich final abwärts.
Ich wußte schon vorher, was kommen würde. Einige Damen, genau genommen deren zwei, davon besonders eine, neigen, wie soll ich sagen, zu lautstarken emotionalen Gefühlsausbrüchen. Bei Herren würde ich auf Testosteronüberschuß tippen, aber bei Weibern? Was also passiert auf den letzten Serpentinen, wenn die noch zu viel Kraft haben? Deren Geschrei hat garantiert auch das letzte Niederwild auf Wochen hinaus ins Unterholz verjagt. Die letzten anderthalb km bringen auch nochmals einige Höhenmeter auf- und abwärts, dann lasse ich ein letztes Mal vor der Buckelbrücke sammeln (nein, kein Geld, die Leute versammeln sich), dann laufen wir mit mehr oder weniger stolzgeschwellten Brüsten die letzten hundert Meter auf den Schulhof, um dort glücklich und zufrieden die Reste der Zielverpflegung zu verdrücken.
Der Lauf ist vorbei und damit normalerweise auch der Bericht, nicht jedoch beim WUT. Frisch geduscht und hungrig trifft sich alles noch im Hotel zur Post, um gemeinsam dem im Startgeld enthaltenen vegan/vegetarischen Pasta- und Salatbuffet zuzusetzen, während über den Beamer bereits die Bilder des Tages unter viel Gelächter projiziert werden. Die „Siegerehrung“ mit der einzelnen Übergabe der Urkunden und der Marathon4you-Terminliste schließt einen aus der Sicht des Veranstalters wunderschönen Tag ab. Der große Beifall und der zahlreiche persönliche Zuspruch würden es uns schwerfallen lassen, im kommenden Jahr keine vierte Ausgabe des Wiedtal-Ultratrails folgen zu lassen. Wir haben verstanden!
Streckenbeschreibung:
65 km überwiegend Naturpfade, viele Singletrails, tolle Aussichtspunkte, rund 2.100 Höhenmeter.
Startgebühr:
35 € inkl. Finishershirt und abendliches Pastaessen im Hotel. Ein evtl. Einnahmenüberschuß geht vollständig als Spende an die Henry Wanyoike Foundation in Kenia.
Auszeichnung:
Urkunde
Logistik:
Bestens, kürzeste Wege, Duschmöglichkeit nach dem Ausfahren im Eingangsbereich des Besucherbergwerks.
Verpflegung:
Viermal mit mindestens Tee, Wasser und Iso (alle warm), Gebäck, Nüssen, Rosinen, Äpfel, Bananen, Riegeln, Brot, Käse, ggf. weitere Spontanüberraschungen.