Von Frankfurt kommend gibt es einen Pass bei Wiesbaden, von dem man über den Taunus nach Köln gelangt: Die Platte, eine 500 Meter hoch gelegene Gebirgsfläche im Naturpark Taunus. Eine uralte Handelsstrasse führt hindurch, der Volksmund nennt ihn „Hühnerweg“, neudeutsch Chicken Highway. So genannt wegen der vielen Hünengräber aus der Hallstattzeit (800 v. Chr.) entlang der Route.
Das Jagdhaus Platte, wo sich das Marathonzentrum befindet, ist nicht ganz so alt. Es wurde 1823 von der nassauischen Herzogfamilie gebaut. Als Adoph Wilhem Carl Friedrich von Nassau-Weilburg, Großherzog von Luxemburg wurde, gelangte das Schloß in den Besitz von Luxemburg, das es 1913 an die Stadt Wiesbaden verkaufte. Im zweiten Weltkrieg befand sich hier die Flugabwehrleitstelle für das Rhein-Main Gebiet, weswegen das Schloß von britischen Bombern pulverisiert wurde.
1993 war das Schloß wieder aufgebaut, die inneren Ruinenreste sind in den Neubau integriert. Bedeckt wird das Schloß von, na klar, einer Glasplatte. Das macht die Innenräume hell und freundlich. Hier holt man seine Startunterlagen ab, hier kann man sich nachmelden. Auf dem Vorplatz gibt’s Verpflegung, Aussteller, Moderation, Biertische und –ausschank und reichlich Parkplätze .
Die Organisatoren sind blutjung, organisieren seit langem MTB Rennen, haben neue Ideen, wie z.B. die Datumsschreibweise: 04.07.015, aber leider keine Ahnung, wie man diesen Marathonlauf publik macht. Das übernehme ich jetzt.
2013 fand der erste Wiesbadener Marathon statt, es gab 10 Finisher. Dieses Jahr gibt es 38 Finisher beim Marathon( 1250 hm). Das ist schade, dieser Lauf hat wesentlich mehr verdient. Es waren auch mehr vorangemeldet, aber das heisse Sommerwetter hat viele Läufer abgeschreckt. Beim Halben( 836 hm) starten etwa 150 und noch viel mehr beim 10,5 km Lauf (300 hm).
Die meisten Sportler (über 800) starten morgen, am Sonntag, wenn die Radler 128, 85, 44 und 27 km absolvieren. Bekannt ist das „Auf die Platte, fertig, los“ vom Neroberglauf, dessen Tal zu beengt war, weswegen jetzt die Infrastruktur oben auf die Platte verlegt wurde. Ein würdiger Ort für einen Lauf, der mal richtig groß wird.
Der Oberbürgermeister Sven Gerich unterstreicht die Wichtigkeit der Veranstaltung für die Stadt Wiesbaden. Das junge Organteam Wiemotion hat volle Rückendeckung und auffallend viele Sponsoren, was von einer ambitionierten Arbeitsweise zeugt.
Einer der großen Sponsoren ist das Radgeschäft All Mountains in Wiesbaden, dessen Eigner Wolfgang ich beim 235km Lauf in Kambotscha kennengelernt habe. Viele Läufer kennen Dieter, der nun zum dritten Mal hier antritt. Nichts besonderes, wäre er nicht Stenograph beim Hessischen Landtag. „ Ich kann jeden Zwischenruf, jedes Klatschen, jede Beleidigung festhalten und den Parlamentariern zuordnen.“ Da wird er viel zu tun haben, 475 Silben pro Minute bringt er so zu Blatte. Nach 10 Minuten ist Wechsel mit einem seiner 10 Kollegen. Ganz so schnell wird er heute nicht sein, aber immerhin gewann er letztes Jahr die Ü50 Wertung. Nach dem Lauf macht er für uns eine Führung durch das Wiesbadener Schloß, dem Sitz des Landtages.
Bernhard hat die Startnummer 1, er freut sich wie ein Honigglas, oder so. Eigentlich hatte ich mich gestern beim Nachtmarathon mit Nodger und Christopher hier verabredet. Sie erscheinen aber nicht. Rene wollte nach dem Nachtmarathon heute den 100 km TU laufen, aber manchmal sind Vorhaben nicht finishbar.
Dafür erscheint ein anderer Réné, er kommt auf den letzten Drücker, meldet nach, weil der Erbacher Marathon wegen „ unzumutbarer Hitze“ abgesagt wurde. Hier in Wiesbaden begegnet man der unberechenbaren Natur mit Getränkestellen mindestens alle 2,5 Kilometer, oft nur Getränkekästen, die an wichtigen Kreuzungspunkten stehen. Gute Idee, sehr gute sogar! Alle 5 Km gibt es große Verpflegungsstellen mit Bananen, Äpfel, Müsliriegeln. Gesponsert wird das von Globus. Außerdem gibt immer Rossbacher in verschiedenen Geschmacksrichtungen, also keine faden Pulvergetränke, natürlich auch Wasser und zusätzlich Schwammstationen.
Die ersten 8 km geht es steil hinab ins Nerotal. Es macht riesig Spass, wir befinden uns auf einer MTB Strecke, manchmal eine Halfpipe, manchmal Sprungschanzen, viele Wurzeln, technisch einfach, lustig, interessant. Die Markierungen sind für die Radler ausgerichtet, deswegen vollkommen idiotensicher. Da wurde zentnerweise Kreide verwendet und würde sogar der blinde Harald im Dunkeln erkennen. Außerdem wirkt das einer Übersäuerung des Waldes entgegen. Die Strecke führt zu 90 % durch den Wald, 10% über Wiesen. Ortschaften werden wir nicht durchlaufen, deswegen biegen wir nun, bevor die Häuser von Wiesbaden sichtbar werden ab, und besteigen den Neroberg.
Die Bezeichnung „Nero“ spielt auf die römische Vergangenheit des Hausberges von Wiesbaden an. Seit 1888 fährt hier die Nerobahn hinauf. Eine interessante Seilbahn, die nur durch das Gewicht von Wasser betrieben wird: Es gibt zwei Wagen, einer oben, einer unten, der obere tankt Wasser und zieht den unteren hinauf. Pro Passagier werden 80 Liter zusätzlich getankt. Das ist in etwa so viel, wie ich heute trinken muss.
Zusammen mit uns steigen Familien hinauf, mit Schwimmreifen und Boogiboard bewaffnet. Sie kommen vom Opelbad mit dem atemraubenden Blick über Wiesbaden. Das wohl schönste Freibad Deutschlands wurde von Wilhelm von Opel, einem Anteilseigner der Adam Opel AG 1933 gestiftet.
Auf dem Neroberg leuchtet das Monopterus, eine „Tempelanlage.“ Seine Säulen trugen früher die Öllampen auf der Wilhelmsstrasse. Auch von hier aus hat man einen wunderbarer Blick über das sonnendurchflutete Wiesbaden. Aber ich kann mir den kleinen Ausflug dorthin nicht mehr leisten, mir geht es nicht gut. Habe seit gestern Mittag nichts Festes mehr essen können, die Hitze beim Nachtmarathon hat mich appetitlos gemacht. Der Magen wehrt sich gegen die extreme Flüssigkeitszufuhr mit all seinen eigenen Möglichkeiten.
Das Alte Neroberghotel brannte 1989 nieder, geblieben ist nur der Turm. Dort ist eine Gartenwirtschaft. Das merke ich mir für nächstes Jahr vor und kämpfe weiter. Bei jedem Getränkekasten steht die Kilometerzahl dran. Ich kann dem keinen Glauben schenken. Wie langsam kann man denn sein? Doch es scheint wahr zu sein.
Immer wieder huschen Läufer irgendwo durch die Bäume, sie laufen andere Distanzen. Das belebt den Wald, der ohnehin sehr abwechslungsreich ist. Es gibt unterschiedliche Vegetationszonen, je nach Bodenbeschaffenheit. Super sind die urigen Bäche, wo ganze Baumgruppen umgefallen sind und den Eindruck eines von der Zivilisation weit entfernten Gebietes produzieren.
Die Streckenführung ist verwirrend, selbst Jana, die hier unterhalb des Neroberges wohnt, kennt nur Teilstrecken. Diese Windungen, Singletrails, Richtungsänderungen und Kreuzungspunkten mit Kurzstrecklern sind eine hervorragende Leistung des Orgateams. Leider werden beim Marathon später die Kilometer auf breiten, steinigen Wirtschaftswegen gerobbt. Doch das ist normal, die Strecke wird von Jahr zu Jahr verbessert.
Bei mir ist die Luft raus. Mir tun die jungen Helfer leid, die nur auf mich warten. Hinter mir brechen die Läufer weg, ich bin Schlußlicht. Meine Überwachung wird durch Dirtbikes, Motoräder gesichert, meine Position ist jedem Helfer bekannt, keiner murrt oder hat schlechte Laune, weil ich deren Zeit beanspruche. Manchmal setze ich mich zu ihnen und erkläre, dass ich schon letzte Nacht einen Marathon gelaufen bin und eigentlich Sportlehrer für Bio und Sachkunde werden wollte.
Steil, sehr steil geht es auf den Kellerskopf hinauf. Wie fast auf jedem Taunusgipfel gibt es hier noch keltischen Ringwälle, ehemals Stadtmauern, über die man erstmal hinüber muss. Hier oben ist ein großer Verpflegungspunkt, doch ich schaue hinüber zum Aussichtsturm und Restaurant. Hier gibt es ein Standesamt und als ich über die Terrasse dackel, schauen mich ungläubige Augen an. Da muss ich lachen: Wer ist bekloppter? Ich oder das Brautpaar?
Bei anderen Läufen gehe ich gerne zusätzlich auf solche Aussichtstürme. Heute wäre ein glasklarer Blick bis zum Odenwald möglich, vielleicht schaffe ich es nächstes Jahr, wenn ich 50 Läufer hinter mir habe. Es werden mehr Läufer kommen, da bin ich mir absolut sicher. Denn der Wiesbadener Trail Marathon schliesst endlich eine gewaltige Lücke im Rhein Main Gebiet.
Irgendetwas hat sich durch meinen Schuh gebohrt, ich kann nicht auftreten und habe keine Kraft mehr, um eine Gegenmaßnahme einzuleiten. So ist das, wenn man auf Verlust läuft. Es beginnt ein Eiertanz. Damit meine ich ein sehr vorsichtiges, gewundenes Verhalten und Taktieren in einer heiklen Situation. Es läuft heute alles gegen mich, ich habe alle Probleme, die man haben kann und letzte Nacht nicht geschlafen. Aber genauso sieht das Training für einen großen Abenteuerlauf aus.
Oberhalb von Naurod geht es wieder steil hinauf, am Waldrand zwar, aber mit hitzigem Gruß von der großen Wiese. Oben am Ende der steilen Steppe steht das Lebenswäldchen Bärenherz, ein Ort der Hoffnung und Zuversicht. Auch für mich, denn ich weiss nicht mehr, ob ich finishen kann. Das Lebenswäldchen wird zweimal im Jahr für eine Gedenkfeier mit den Eltern genutzt, deren Kinder im letzten Jahr gestorben sind. Da wird mein heutiges Leid überwindbar.
Auch wenn es ab jetzt nur noch durch den Wald geht, es ist heiss. Hoffnungspunkte sind die Getränkekästen alle 2,5 km und alle 5 km könnte ich mich zurücktransportieren lassen, was heute rege in Anspruch genommen wird. Für mich, der seit langem Schlußläufer ist, gibt es noch genug zu trinken.
Mein Respekt gilt den Kameraden, die jetzt beim TU laufen. Mein Respekt gilt den Triathleten morgen in Frankfurt und den MTB-Radlern, die morgen dreimal meine heutige Marathonstrecke fahren werden. Ich schimpfe auf die Presse, die Lesern und Sportlern wegen eines sonnigen Sommers Schuld und Unvernunft einredet und Veranstalter in Zugzwang bringen kann. Rudi sang vor Jahren. „Wann wird es mal wieder richtig Sommer!“ Jetzt haben wir ihn. Wiemotion hat es richtig und gut gemacht.
Die letzten Meter hoch zum Jagdhaus Platte sind steil und in der prallen Sonne und gehört zu einem unvergesslichen Abschluß eines nicht so einfachen Traillaufes dazu. Eine Ewigkeit später bin ich auf der steilen Strasse, auf der die Kids mit ihren Bikes einen Kampf ausführen, der mich staunen lässt. Es sind nicht unbedingt die Eltern, die hier anfeuern, das sind schon Offizielle, die auf eine gute Platzierung ihrer Schützlinge setzen. Für mich gibt es glücklicherweise keine Zeitvorgabe, die Zeitmessung bleibt eh bis morgen abend aktiv.
Die letzten Meter geht es über eine Brückenkonstruktion ins Ziel. Lange habe ich mit Alexandra zusammen gekämpft, dann war sie doch eine Minute vor mir im Ziel. Angie ist aber auch nur drei Plätze vor mir: „Mann, der Réné hatte heute auch keinen guten Lauf!“
Es siegt Réné Strosny vor Frank Wiegand („ komplett ohne lange Läufe seit April“) und Katja Friedlander-Tiller .
Wer nicht am nächsten Tag in Frankfurt den Ironman laufen muss, der sollte sich dieses Event in Wiesbaden notieren. Empfehlenswert. Nächstes Jahr feiern wir hier vor dem Jagdschloß Platte den Sommer! Gepennt wird im Auto. Und was selten ist: Es gibt warme Duschen!