Niederlosheim, ein kleines Städtchen im Saarland; wird heute zum Treffpunkt für viele begeisterte Trailrunner. Die Hartfüßler, die inzwischen außer ihrem sehr beliebten Hartfüßlertrail im August auch den Rest des Jahres über eine große Vielfalt sehr unterschiedlicher Laufveranstaltungen organisieren, laden erstmals zu ihrem X-MAS-Trail ein.
Ich zähle sicherlich zu den Leuten, die sich über die erste Ankündigung des Events am meisten freuen. Erstens will ich schon lange mal wieder bei den Hartfüßlern laufen, aber mit nur einem arbeitsfreien Wochenende pro Monat passte das zuletzt nie. Zweitens mag ich die besondere Herausforderung winterlicher Trailläufe sehr und drittens bietet mir der X-MAS-Trail ein hervorragendes Alibi, warum ich an diesem Wochenende keine Party zu meinem 60. Geburtstag organisieren kann. Viel lieber fahre ich mit Annette ins Saarland und laufe mit vielen ebenso Verrückten durch den winterlichen Wald.
In der Ausschreibung stehen Brian Trail (13,7 km, 450 Hm), Ruprecht Trail (29,5 km, 900 Hm) und X-MAS-Trail (47,3 km, 1440 Hm). Ich melde mich für die lange Strecke, Annette für die Mitteldistanz. Bis zuletzt überlege ich, ob ich ebenfalls auf die knapp 30 km ummelden soll, da ich schon seit Monaten aus verschiedenen Gründen immer wieder Trainingspausen einlegen muss und eigentlich jetzt viel zu langsam bin. Doch ich bleibe optimistisch, dass ich heute trotzdem die für die lange Distanz nötigen 6 km/h schaffe.
Am Morgen ist es kalt. Sehr kalt! Heute bleibt die Temperatur dauerhaft unter dem Gefrierpunkt. Schon auf dem Weg zur Sporthalle rauben mir die 5 bis 6 Grad unter Null den Atem. Zum Glück findet vor dem Start alles drinnen im Warmen statt. Die Startnummernausgabe funktioniert schnell und problemlos. Unser Gepäck können wir abgeben, so dass es nicht unbeaufsichtigt herumliegt. Ich trinke noch einen Kaffee, plaudere mit anderen Läufern und genieße die bei solchen Events typische, entspannte, von Vorfreude geprägte Stimmung.
Um 8:45 gibt es ein kurzes Streckenbriefing. Dann begeben wir uns allmählich nach draußen. Brrrrr! Ich sage es noch einmal: SAUKALT! Aber wer sich für einen Lauf in dieser Jahreszeit anmeldet, darf sich darüber nicht beschweren. Ich empfinde für diese Witterung eine Haßliebe. Ich schimpfe über die Kälte, freue mich aber gleichzeitig über die besondere Herausforderung.
Pünktlich um 9 Uhr fällt der Startschuss für uns Ultratrailer. Die Mitteldistanz ist erst 1,5 Stunden später dran. Schon nach etwa 300 m liegt der Ortsrand hinter uns und wir laufen über breite, sanft ansteigende Wege voran. Die Sonne lacht vom wolkenlosen Himmel und lässt den Frost vergessen. Heute bleibt es den ganzen Tag über trocken und meist windstill. 800 m nach dem Start zweigt am Waldrand eine Route ab, die am Ende des Rennens zurück zur Sporthalle führt.
Sprühmarkierungen am Boden signalisieren deutlich, dass wir geradeaus laufen müssen, der Weg nach rechts dagegen zum Ziel führt. Aber wie schon oft achten die schnellen Läufer vorne nicht auf die Details, sehen nur die Flatterbänder rechts und biegen ab. Die meisten merken den Irrtum schnell, kehren um und finden sich nun plötzlich in der zweiten Hälfte des Feldes wieder. Kurz darauf kommen wir an der schon seit dem 18. Jahrhundert bestehenden Dellborner Mühle vorbei. Gleich darauf zeigt ein hölzernes Portal den Einstieg in den „Kleiner Lückner“ an, einen der als Traumschleifen bezeichneten Premiumwanderwege in der Saar-Hunsrück-Region.
Einige Zeit folgen wir diesem Weg. Ein erster steiler Aufstieg lässt die Abstände zwischen den Läufern schnell wachsen. Wie gewohnt fallen mir die ersten Kilometer auch heute besonders schwer. Nach zwei Kilometern laufen nur noch zwei Leute hinter mir. Alles normal für mich! Keine Panik! Das herrliche Licht im flach einstrahlenden Sonnenschein, der Schnee, der dezent den Wald verziert, ohne unseren Lauf stark zu bremsen und genügend schöne Trails lassen mich keine Sekunde daran zweifeln, dass es richtig war, heute hier zu starten. Trotz der Kälte macht mir das Laufen gerade enorm viel Spaß. Und wie gewohnt ist mein anfangs übliches Formtief nach einer halben Stunde überwunden und ich komme nun unbeschwert voran.
Die Strecke führt in munterem Wechsel mal 50 bis 100 Höhenmeter bergauf, dann wieder hinunter und erneut hoch, manchmal auf breiten Wegen, die zum schnellen Laufen einladen, dann wieder auf schmalen, verschlungenen Pfaden, die mein Trailrunner-Herz jubeln lassen. Ach wie schön ist dieser Morgen!
Nach einer Weile rennt Max Kirschbaum an mir vorbei. Als schnellster Läufer ist er vorhin als einziger die unfreiwillige Zusatzrunde wohl komplett durchgelaufen, hat also nun schon etwa 3 km mehr als ich auf dem Tacho. Da ich seine Stärke kenne, zweifle ich nicht daran, dass er es dennoch schaffen wird, das komplette Läuferfeld noch zu überholen.
Meist laufe ich nun alleine, nur ab und zu sehe ich vor oder hinter mir andere Leute. Diese Gegend zählt zum Naturpark Saar-Hunsrück. Die Trails auf der 30 km Strecke, denen auch wir Ultratrailer meist folgen, bieten echtes Trailvergnügen, überfordern aber auch Trail-Einsteiger nicht. Manchmal laufen wir wohl über Mountainbike-Trails statt auf Wanderwegen.
Nach etwa 10 km erreiche ich die erste Verpflegungsstelle. Anders als an VP 2, 3 und 4, an denen es auch Bouillon, warmen Tee und eine große Verpflegungssauswahl gibt, wird hier nur Wasser und Iso zum Nachfüllen unserer Flaschen angeboten. Eigene Becher zählen zur Pflichtausrüstung. Sehr gut! Für die stets gut gelaunten Helfer und Helferinnen an der Strecke ist die eisige Witterung sicherlich noch schlimmer als für uns Läufer. Wir können uns durch Bewegung warm halten, aber stundenlang am Streckenrand zu stehen, stelle ich mir heute richtig übel vor. Ganz herzlichen Dank für eure Unterstützung!
Wir laufen viel durch Wald, nur ab und zu über Hochflächen mit Aussicht. Schließlich erreiche ich die Stelle, an der sich die Strecke der Mittel- und Langdistanz trennt. Ab hier werden die Trails für uns Ultras anspruchsvoller, anstrengender und sogar noch schöner. Etwa bei km 14 erreiche ich die Route der „Traumschleife Schluchtenpfad“, einen besonders schönen Premiumwanderweg. Diesem folgt unsere Route fast komplett. Die Schluchten und Kerbtäler, die das Wasser in Jahrtausenden in den Sandstein gegraben hat, werden hier Gräthen genannt. Rund um Rissenthal bieten mehr als 10 Gräthen einen besonderen Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die feuchte und schattige Orte brauchen. Auf dem Schluchtenpfad kommen wir nun zu einigen dieser Biotope. Schon in der ersten Gräthe ragen am Rand einige kleine Sandsteinfelsen auf. Dann führt mich der Weg über steile Treppen bergauf.
Die komplette Strecke ist sehr gut mit vielen Flatterbändern und auf den Boden gesprühten Pfeilen markiert. Doch nun kommt eine Stelle, wo die roten Pfeile auf dem Boden in die Richtung zeigen, aus der wir gekommen sind. Mist! Wo sind wir falsch abgebogen? Kurz überlegen wir, ob wir umkehren sollen und den Einstieg in die richtige Laufrichtung suchen sollen. Ich hole mein Smartphone aus dem Rucksack, schaffe es aber nicht, meine Position auf dem GPS-Track finden. Wir laufen weiter und bald darauf zeigen wieder alle Pfeile in unsere Laufrichtung.
Je weiter ich dem Schluchtenpfad folge, desto besser gefällt mir die Strecke. Ich fand sie schon seit dem Start schön, aber nun zeigt sich, dass meine Entscheidung für die Langdistanz gut war, denn dies ist der beeindruckendste Abschnitt des Tages. Verschlungene Pfade, mit Moos und Flechten bewachsene Bäume, Lianen die Urwaldstimmung vermitteln, Eiszapfen an den Bächen und immer wieder Treppen - ein echtes Trailparadies! Anstrengend und faszinierend!
Wir laufen kurz durch einen Hohlweg hinab zum Ortsrand von Rissenthal, doch gleich danach wieder über schöne Pfade bergauf.
Der Daufels ist eine geologische Besonderheit. Hier wurde eine alte Kalktuffterrasse unterspült, so dass sie nun zerbrochen in einer Gräth liegt. Auf vielen schmalen Trails steigen wir ab und zu über Äste und Baumstämme, manchmal auch unter umgestürzten Bäumen hindurch. In einer Schlucht warnt ein Schild vor Absturzgefahr, doch dies gilt nur beim Verlassen des Weges. Ein schmaler Taleinschnitt folgt auf den nächsten. Auch im kargen Winter ist hier die Vegetation sehr interessant. Ich will mir nun diesen Pfad aber auch gerne mal im Sommer anschauen.
Während ich gut gelaunt durch die Schluchten laufe bzw. marschiere, bin ich davon überzeugt, genügend Abstand zum Zeitlimit zu haben. Mich irritiert nur ein wenig, dass das Team, das die Flatterbänder einsammelt, schon dicht hinter mir läuft.
Als ich bei km 20 an der kleinen, 1887 erbauten Gedächtniskapelle am Dungweg die zweite Verpflegungsstelle erreiche und erstmals auf die Uhr schaue, bin ich schockiert. Schon 12:40 Uhr!!! Ich hätte nicht erwartet, dass es so spät ist! Nun habe ich keine Chance mehr, die nächsten 10 km bis VP 3 bis zum Cut Off um 14 Uhr zu schaffen.
Ich trinke zwei Becher Bouillon und esse etwas von der süßen und salzigen Verpflegung. Ein Läufer steigt hier aus dem Rennen aus, zwei andere laufen kurz vor mir weiter und ich bin nun das Schlusslicht.
Ich nehme mir vor, die Leute an VP 3 zumindest nicht allzu lange warten zu lassen. Zuerst geht es mit angenehmer Steigung durch den Wald hinauf zu einer Hochfläche mit weiter Aussicht, dann über einen einfachen Trail bergab. Ein kurzes Stück laufe ich am Rand von Rissenthal der Straße entlang, dann auf breiten Wegen über landwirtschaftlich geprägte Idylle. Anschließend führt die Strecke wieder hinauf in den Wald. Hier holt mich das Team ein, das die Markierungsbändel entfernt. Sie fragen mich, ob ich den GPS-Track gespeichert habe. Als ich antworte, dass ich ihn zwar habe, heute mein Smartphone aber die Nutzung blockiert, empfehlen sie mir, nun eine etwa 2 km lange Schleife abzukürzen, da ich diese ansonsten ohne Markierung laufen müsste. Auf mich warten können sie nicht, da sie sonst nicht bei Tageslicht mit der Strecke fertig werden.
Ihre Wegbeschreibung ist unmissverständlich: Wenige hundert Meter dem breiten Forstwirtschaftsweg folgen, bei drei Kreuzen kurz rechts, dann auf der dort noch markierten Route links. Da kann man eigentlich nichts falsch machen. Schade um die Wegschleife, die ich nun ebenfalls verpasse, aber vernünftig! Doch nun gibt es ein kleines Schicksal-Teufelchen, das verhindern will, dass ich weniger als 30 km laufe. Ich erreiche eine Stelle, an der ein mit Sprühfarben markierter Trail den Forstwirtschaftsweg kreuzt. Ich wundere mich zwar, dass ich die erwähnten drei Kreuze nicht gesehen habe, folge nun aber den roten Pfeilen auf dem Trail ein paar hundert Meter steil bergab. Dann führt mich die Markierung wieder bergauf. Doch hoppla: Diese Treppe habe ich doch schon vor ein paar Stunden fotografiert! Mist! Ich bin zu früh abgebogen und auf der Route vom Hinweg! Also wieder hinauf zum Forstwirtschaftsweg steigen, diesem noch 100 m bis zu den Kreuzen (!!!) folgen und nun auf der richtigen Route weiter.
Einige Kilometer weit bleibt die Strecke nun relativ leicht und wenig spektakulär. Zwischendurch geht es auf einem Trail bergab. Einmal fotografiere ich eine schöne Aussicht.
20 Minuten nach der Cut-Off Zeit erreiche ich bei km 30 die große Holzhütte oberhalb des Ortsrandes von Oppen, wo sich die dritte Verpflegungsstelle befindet. Vor der Hütte gab es Bouillon und eine große Auswahl süßer und salziger Verpflegung. Inzwischen wurde alles in die Hütte geräumt. Ich esse drinnen kurz etwas und überlege, ob ich ohne Wertung noch weiter will, um den Rest der Strecke zu fotografieren. Doch ohne Markierungsbändel und mit der Gewissheit, erst nach Sonnenuntergang und viel zu spät das Ziel zu erreichen, erscheint mir dies sinnlos. Schade, ich hätte gerne auch den Rest dieser schönen Route gesehen. Aber dass es für mich heute nicht reicht, liegt einzig und alleine an mir. Das Zeitlimit 14 Uhr ist hier eigentlich ausreichend und absolut sinnvoll. Ich nehme das Angebot eines Helfers an, mit ihm nach Niederlosheim zurück zu fahren und helfe ihm, das Material ins Auto und am Ziel auszuladen.
Die beiden anderen, heute meist in Sichtweite vor oder hinter mir laufenden Teilnehmer, eilen nun trotzdem weiter, obwohl sie keine Chancen mehr haben, bis zum Zielschluss um 16:30 Uhr in Niederlosheim anzukommen. Doch sie haben Glück und stehen mit 47 Minuten Verspätung nun auch auf der Finisherliste. Vielleicht hätte ich sie doch begleiten sollen.
Meine Lebensgefährtin Annette, die ihre knapp 30 km Runde problemlos schafft, erzählt mir anschließend, was ich verpasst habe. X-MAS Trail und Ruprecht Trail führen auf den letzten 17 km wieder über dieselbe Route. Unter anderem wäre ich an einem fantastischen Wildgehege mit vielen fotogenen Hirschen vorbei gekommen und einen Trail an einem idyllischen Bach gefolgt.
Auch Annette ist von der heutigen Veranstaltung begeistert und will nächstes Jahr nun bei einem weiteren Hartfüßler-Lauf starten. Dank meines DNF komme ich gerade rechtzeitig in die Halle, um einige Fotos bei der Siegerehrung zu machen. Der Held des Tages ist für mich ganz klar Max Kirschbaum, der trotz seiner am Beginn des Rennens eingefügten langen „Bonusrunde“ das gesamte Feld überholen kann und am Schluss mit 15 Minuten Vorsprung das Ziel erreicht.
Auf der Kurzdistanz erreichten heute 35 Frauen und 77 Männer das Ziel, auf mittlerer Strecke 31 Frauen und 70 Männer, beim X-MAS-Trail 18 Frauen und 56 Männer. Ich bin sicher, dass vor allem die angekündigte extreme Kälte viele Interessierte von einem Start abhielt, außerdem natürlich das schon vor Zielschluss beginnende Fußball-WM-Finale. Nächstes Jahr werden sicherlich mehr kommen. Es lohnt sich!
Für mich ist nun klar, dass ich zuerst wieder auf mein gewohntes Trainingstempo kommen muss und daher im nächsten Quartal wohl Wettkampfpause mache. Aber ich kehre ganz bestimmt zurück, denn genau solche Trails wie heute werden auch in Zukunft zu den unverzichtbaren Höhepunkten meines Läuferlebens zählen. Und mein (hoffentlich) erster 200 km Lauf ist für Juli schon fest eingeplant.