Anmerkung der Redaktion: Jeffrey Norris ist blind. Trotzdem läuft er Marathons, Ultras und auch ganz extreme Trails auf der ganzen Welt. Eine kurze Biographie findet Ihr am Anschluss an seinen Bericht.
Zur Zeit des Goldrausches am Klondike war der Yukon River (Großer Fluss) berüchtigt, vor allem wegen des Miles Canyons, einer engen, von Felsen gesäumten Strecke in der Nähe von Whitehorse, der heutigen Hauptstadt des Yukon Territoriums.
Dort musste sich das Flusswasser durch eine schmale Stelle zwängen und es bildeten sich gewaltige Stromschnellen, die die Goldsucher an die Mähnen weißer Pferde erinnerten. Danach wurde Whitehorse benannt. Die Stromschnellen sind heute verschwunden, weil das Wasser des Flusses aufgestaut wurde, der Name der Stadt ist geblieben.
White Horse ist mein nächstes Ziel. Am 02. Februar fliege ich in die Hauptstadt des Provinzes Yukon, um dort an der Yukon-Arctic-Challenge teilzunehmen. Das Yukon-Territorium, das im Nordwesten Kanadas an Alaska grenzt, wird auch als Ursprungsgebiet aller nordamerikanischen indigenen Völker gesehen. Ihre Kultur und insbesondere ihre Spiritualität sind noch heute deutlich präsent, obwohl ihre Lebensumstände sozial und politisch stark beeinträchtigt sind. Mein Flug führt über Frankfurt nach Houston, Vancouver und dann nach White Horse.
Ich habe meinen kürzlich verstorbenen Bruder im Herzen dabei, werde mit ihm in Houston landen, der Stadt, von der aus wir vor 40 Jahren unsere amerikanische Heimat verlassen hatten. Ich bin in den vergangenen Jahrzehnten oft zu unseren Wurzeln in dieser Gegend zurück gekehrt, meine Brüder allerdings nie.
Ich werde ja nur ein paar Stunden in Houston Aufenthalt haben, dennoch begleiten mich viele Erinnerungen an die Kindheit, insbesondere in Verbindung mit meinem Bruder. Noch stärkere Empfindungen erwarten mich in White Horse und dem Gebiet am Yukon. Unsere indianische Abstammung lässt sich sehr weit zurück verfolgen und ist väterlicherseits, mit meinem Großvater als Halbblut, noch sehr präsent. So bringe ich meinen Bruder in Gedanken an zwei Ursprungsorte zurück. Joey war spirituell sehr unserer indianischer Abstammung verbunden. Mit einem Ritual, bei dem etwas von der Hinterlassenschaft des Verstorbenen verbrannt und die Asche in einen Fluss gestreut wird, setzt man einen Teil der Seele an diesem Ort frei. Meine Familie ist überzeugt, Joey würde sich darüber freuen... Für seine Urnenbeisetzung, die nach meiner Rückkehr stattfindet, bringe ich ihm Erde aus dieser Gegend mit.
Die Reise zum Yukon wird aber auch von einem sportlichen Ereignis umrahmt: Am 6. Februar starte ich beim Yukon-Arctic-Challenge. Nach dem atemberaubenden Zauber in der heißen Namib-Wüste werde ich nun ein eisiges Abenteuer erleben. Ursprünglich wollte ich beim 100-Meilen-Lauf starten, musste dieses Vorhaben jedoch aus organisatorischen Gründen „auf Eis legen". Für dieses Vorhaben ist ein Training mit der notwendigen Ausrüstung und einem vertrauten Guide unbedingt erforderlich. Mein vorgesehener Guide und Laufpartner Waldemar ist jedoch erst vor kurzem wieder genesen, so dass keine Zeit für dieses spezielle Training blieb. Dennoch werde ich das Abenteuer am Yukon erleben können.
Ich fliege ohne Begleitung nach White Horse. Dort treffe ich Peter Uekötter, einen Abenteuerläufer, der sich spontan als Guide anbot, als er von meinem Start erfuhr. Wir werden die Marathondistanz gemeinsam erleben.
White Horse, Kanada, 06. Februar, 10:15 Uhr: Am Start zur legendären Yukon-Arctic-Challenge stehen knapp 70 Athleten (Skilangläufer, Mountainbiker und Läufer) in der Vormittagssonne auf dem zugefrorenen Yukon River. Es gibt zwar unterschiedliche Disziplinen und Distanzen, aber alle haben ein gemeinsames Ziel: ankommen...
Noch bin ich in freudiger Erwartung dessen, was uns bevor steht. Um 10:15 Uhr stehen mein Guide Peter, sein Freund Wilbert und ich im Startbereich, umgeben von den 100-Meilen-Läufern mit ihren Pulkas, ein paar Skiläufern und den anderen Marathonis. Es herrscht, wie immer vor einem Start, ausgelassene Stimmung. Jeder wünscht dem anderen Glück, gutes Ankommen und einen schönen Lauf. Ein paar Minuten vor dem Start hält der Veranstalter noch eine kurze Ansprache, der Countdown wird gemeinsam herunter gezählt und dann geht’s los! Nach dem Erlebnis beim Desert Dash in der Wüste, soll dies nun meine zweite Erfahrung und Begegnung sein mit außergewöhnlichen Natur- und Wetterbedingungen.
Auf den ersten Kilometer müssen wir öfters den Läufern mit Pulkas ausweichen, oder sie vorbei lassen, kommen aber trotzdem voran. Die Sonne scheint, es herrscht Windstille und die Temperatur liegt bei ca. -17°C. So extrem, wie mir im Vorfeld berichtet wurde, sind diese Bedingungen nicht, jedoch sind sie für mich trotzdem sehr außergewöhnlich. Die trockene Kälte ist erträglich, so lange man in Bewegung bleibt. Auch das Einatmen der eisigen Luft ist nicht so, wie es einige Läufer vorher vermutet und befürchtet hatten. Sehr ungewöhnlich und teilweise schwierig ist jedoch die Strecke und das Profil. Die ersten km sind deutlich von den Kufen der Pulkas, aber auch von den Schlitten des Yukon-Quest, dem legendären Hundeschlittenrennen, das am Tag zuvor gestartet war, gespurt. In den breiten Spuren finden wir relativ festen Stand haben.
Zu den erschwerten Bedingungen, die uns die der Natur diktiert, kommt noch, dass mein Guide Peter noch nie einen Blinden geführt hat. Wir waren zwar zwei Tage zuvor schon auf dem Yukon zu einem ersten gemeinsamen Lauf unterwegs, allerdings wurde es mehr zu einem Photoshooting mit Peter’s Freund Wilbert, als zu einer Trainingseinheit. So müssen wir uns nun aneinander gewöhnen, um die bevorstehenden Stunden zu meistern.
Die anfangs noch breiten Spuren werden mit jedem Km, den wir vorwärts kommen, schmäler. Es wird mit der Zeit ein Nervenspiel, die Spur zu halten. Zeitweise versuche ich hinter Peter zu laufen, um sicheren Boden unter den Füßen zu behalten. Dies wird zeitweise sehr anstrengend und meine innere Anspannung nimmt zu. Das knatternde, klirrende Geräusch unserer Schritte klingt fremd, manchmal fast bedrohlich und ich verlangsame das Tempo. Peter wäre alleine sicherlich viel flotter unterwegs, bremst sich aber dann immer wieder aus Rücksicht.
So bleiben mir außer einer Stauchung im Mittelfuß und einer leichten Zerrung im Oberschenkel, ernsthafte Verletzungen erspart. Auch für Peter wird es zu einem Geduldspiel. Für ihn ist es nicht einfach, sich auf den Weg zu konzentrieren und gleichzeitig ein Auge auf mich zu werfen. Die Sicherheit, die mir ein vertrauter Guide in dieser Situation auch ohne Worte vermitteln könnte, kann er mir aufgrund der extremen Bedingungen und der mangelnden Erfahrung als Guide nicht vermitteln. Peter gibt sich große Mühe, versucht die Gegebenheiten schnell zu erfassen, um mich darauf einzustellen. Als der Schlauch meines Trinkpacks zufriert, teilt Peter sein Getränk mit mir. Eine großartige Geste, die ich zu würdigen weiß.