Fast pünktlich packten Fisse und ich unsere Sachen und als wir uns am Checkpoint abmelden wollten kam auch Tobi noch dazu. Er war trotz allem gut hier angekommen und war zuversichtlich, die Strecke bis Braeburn auch mit Thomas' Leihrad zu schaffen. Sobald er dort angekommen war, wollte Robert sein eigenes Fahrrad aus Whitehorse mit nach Braeburn nehmen, sodass Tobi und Thomas wie geplant mit ihren eigenen Bikes weiterradeln konnten.
Und weiter ging's: Kurz vor halb neun verließ ich die SIR North Ranch, ließ mich von meiner Pulka auf den Fluss runter schieben und marschierte mit dem gewohnten Tempo weiter. Es war immer noch auffallend viel Verkehr hier und so traf man immer wieder den einen oder anderen, der gerade Pause machte.
Gegen 4h morgens war es dann Fisse, dem ich gleich berichtete, dass ich schon jetzt etwas mit der Müdigkeit zu kämpfen hatte - kein allzu gutes Zeichen für meine (noch) ehrgeizigen Ziele. Ihm ging es auch nicht anders und so beschlossen wir, uns nach einem schönen Biwakplatz umzusehen. Doch zunächst wurde noch mal unsere Navigationsfähigkeit auf die Probe gestellt: An einer Stelle, an der der Trail nach rechts oben abbog, marschierten wir beide schnurstracks weiter; uns fiel nichts an dem Holzweg auf, denn die Markierungen waren in diesem Jahr so spärlich, dass wir sie zunächst nicht vermissten und Thomas hatte den gleichen Fehler gemacht, sodass wir uns keine Gedanken machten, solange wir noch den Spuren seiner Reifen folgten. Aber bald stellten wir fest, dass es definitiv nicht mehr weiterging und sich die Skidoospuren, denen wir gefolgt waren, im Nichts verloren. Also um 180° gedreht und alles wieder zurück. Zur Entschädigung fanden wir einen wirklich schönen Biwakplatz unter einem großen Baum und machten für 4 Stunden die Augen zu.
Wieder im Hellen ging es weiter und ich fühlte mich schön langsam sauwohl. Einzig meine Füße machten Ärger, da sie nicht mit den nassen Schuhen einverstanden waren. Irgendwie schienen auch meine Schuhe für den Schnee nicht ganz geeignet und so spürte ich bald die ersten Blasen an der Ferse. Es war immer noch warm und gelegentliche Abschnitte im weichen Schnee machten die 66km zum Dog Grave Lake zu einer anspruchsvollen Angelegenheit. Ich hatte noch kein richtiges Gefühl für meine Geschwindigkeit und war sehr, sehr froh, als ich gegen Mittag in weiter Ferne das "5km to CP"-Schild sah. Dass ich den "Half way to CP"-Marker übersehen hatte bzw. übersehen haben musste war mir sonnenklar. Stimmte aber nicht. Fast schon entsetzt las ich das Schild, das ich vor mir hatte wieder und wieder. Doch es gab nichts zu zweifeln und zu interpretieren. "HALF WAY TO CP" stand da schwarz auf orange. So schnell kann man sich um 28km verschätzen! Wie heißt es so schön: "Die große, böse Schwester der Hoffnung. Ihre Waffe: Das Schwert, ihr Name: Enttäuschung." Herzlich willkommen im Yukon!
Ich zog weiter meinen Schlitten durch den Wald und versuchte meinen Rhythmus zu finden. Allerdings war ich nicht böse, als ich darin unterbrochen wurde: Schon ein paar km nach dem vermeintlichen 5km-Schild saß Fisse auf einer Lichtung und kochte sich sein Mittagessen. Nicht, dass es irgend etwas an der Situation geändert hätte, aber ich war doch ein wenig getröstet als ich Fisse von meiner Enttäuschung am "Half way"-Schild erzählte und er nur meinte "Hah, danke, gleichfalls!" So gab es halt erst mal lecker Fertigessen und nach ca. einer Stunde machten wir uns wieder auf unseren Weg. Dass wir nicht gemeinsam unterwegs sein würden hatten Klaus, Fisse und ich zwar zuvor nicht konkret ausgemacht, trotzdem war es jedem von uns dreien klar: Wir waren nicht hier, um im Team schneller zu sein, wir waren nicht hier, um immer jemanden zum Reden bei uns zu haben und wir waren nicht hier, um uns nicht alleine zu fühlen. Jeder von uns wollte "seine" 515km laufen, "seine" Nächte durchmachen und "seine" Erfahrungen gewinnen. So trafen wir uns an den Checkpoints, hatten dort unseren Spaß und packten unsere Erinnerungen vom letzten Jahr aus. Doch unterwegs war jeder für sich, und das war auch gut so.
Kurz vor zwei war es dann wirklich da: "5km to CP" stand völlig unmissverständlich auf dem Schild. Wenn mich nicht alles täuschte hing das Schild sogar etwas weiter Richtung Checkpoint und so dauerte es nur eine knappe Stunde bis ich das rote Checkpointzelt durch die Bäume scheinen sah und nicht eindreiviertel Stunden wie im letzten Jahr. Oben angekommen gab es jedoch erst mal eine böse Überraschung: Ich konnte beobachten, wie Thomas de Jager, der als Skidoofahrer dabei war, Tobis Bike in den Hänger packte. Auf meine Frage "Was ist das?" antwortete Tobi zerknirscht: "Das ist ein Ende." Er hatte sein Fahrrad die meiste Zeit geschoben und anstatt ihm das Sitzen zu erleichtern rieb ihm seine Radhose die Haut an den Schenkeln auf, sodass an ein Weitermachen nicht zu denken war. Ihn zu trösten gelang mir nicht wirklich, viel zu sehr war ich mit mir selbst beschäftigt. Ich wünschte ihm alles Gute, versuchte ihm Mut zu machen, verabschiedete mich und verzog mich ins Zelt.
Im Gegensatz zum letzten Jahr machte ich hier am See nur knappe drei Stunden Pause und schlief nicht. Kurz vor 18h packte ich meine Sachen und schaute, dass ich Richtung Braeburn kam. Mir war klar, dass ich zu diesem Zeitpunkt langsamer unterwegs war als im letzten Jahr, aber ich hatte meine Ambitionen deutlich in Richtung "Genuss" reduziert und konnte nun endlich so laufen, wie es für mich am besten war. Außerdem war die Geschwindigkeit vom letzten Mal nicht wirklich ein Maßstab, denn schließlich hatte sie nicht zum Erfolg geführt!
Trotz Vollmond war ich nachts ziemlich müde und mit Andy Headings Rat "Just don't go off too fast at the start... there's PLENTY of time!" im Gepäck beschloss ich gegen 22h, wieder eine Schlafpause zu machen. Ich bekam gerade noch mit, wie Robert auf seinem Skidoo vorbeidüste, dann war ich schon weg. Ich schaffte es, 8h fast durchgehend zu schlafen und machte mich erst gegen morgen wieder auf die Beine. Mein Schlafsack war in den beiden Nächten bisher ziemlich feucht geworden und das Wetter machte keine Anstalten, irgendwie yukon-typisch zu werden. Die feuchten Klamotten, die aufgeweichten Füße und ein paar Regentropfen (!) vermiesten mir zwar die Stimmung, aber ich tröstete mich damit, dass das Rennen eigentlich erst nach Braeburn losgehen würde. Also zog ich brav und ruhig meinen Schlitten durch die nicht enden wollenden Baumschneisen im Wald und schon bald auf den Lake Braeburn. Von hier war es nicht mehr weit und um 12:40h, 20min nach Klaus und Joachim und rd. 13h später als im letzten Jahr kam ich in der Lodge an.
Der Hunger war wieder mal größer als der Magen und so musste ich den Super-Burger leider zur Hälfte zurückgehen lassen. Wir kümmerten uns um unsere Füße, tauschten die neuesten Neuigkeiten aus und genossen eiskalte Cola. Hier trafen wir auch Thomas Muhler wieder. Er war bereits am Vortag angekommen, hatte noch mal eine Nacht im Hotel in Whitehorse verbracht und war nun wieder da, um von Braeburn aus seine 1.000M-Tour nach Tuktoyaktuk im Mackenzie-Delta fortzusetzen. Die Aufregung wegen der bevorstehenden Tour war ihm und seinem Team deutlich anzumerken: Während wir uns in gewohnter Checkpointpose auf unseren Stühlen fläzten und versuchten, unsere Burger zu verdauen, ging quasi im Minutentakt die Türe auf und zu und eines der Teammitglieder kam rein oder ging raus. Irgendwann herrschte dann doch Stille und wir vermuteten, dass die Truppe nun auf ihrem langen Weg Richtung Norden unterwegs war. Übrigens - das vorneweg - sollte das Unternehmen von Erfolg gekrönt sein: 13 Tage nach dem Start in Whitehorse erreichte das Team die Siedlung Tuktoyaktuk.
Kurz bevor es dunkel wurde, also gegen 17h, machten wir uns wieder auf den Weg. Natürlich nur kurz gemeinsam, denn mein recht hohes Gehtempo führte dazu, dass ich schon bald wieder einen Vorsprung vor den beiden anderen hatte. Dass ich die anstehenden 69km-Etappe nicht ganz durchziehen würde war mir ohnehin klar, und so nahm ich gegen Mitternacht einen kuschelig anmutenden Biwakplatz in Beschlag, um meinen Vorsprung wieder zu "kompensieren". Doch diese Nacht konnte ich nicht so genießen wie die vorige: Im Halbschlaf bemerkte ich, dass ich immer mal wieder mit meiner Schlafsackkapuze zu kämpfen hatte.
Seltsam eigentlich, denn aufgrund der relativ milden Temperaturen hatte ich das Kopfende des Schlafsacks nicht zugeschnürt, sodass ich mich eigentlich gut bewegen konnte. Während einer dieser Schlafsackaktionen machte ich noch dazu seltsame Beobachtungen: Ich bemerkte einen Läufer, der neben mir Halt machte, etwas murmelte, wieder zurückging und dann wieder zu mir kam. Ich wusste zwar nicht was los war, hatte aber das Gefühl, dass auf dem Trail reger Verkehr herrschte, was meine Schlaflosigkeit noch verstärkte. Als ich nach acht unruhigen Stunden zum wiederholten Male aufwachte und meinen mit Raureif überzogenen Schlafsack vor mir sah, wusste ich aber gleich, was los war: Die Temperatur war über Nacht um ca. 20°C gefallen. Daher hatte ich auch unbewusst immer wieder versucht, meinen Schlafsack ordentlich zu schließen, weil es schlicht gesagt saukalt war. Und auch das nächtliche Verkehrsaufkommen konnte am nächsten Tag aufgeklärt werden: Fisse war hier ja mittlerweile zum dritten Mal unterwegs und wusste genau, an welcher Stelle er biwakieren wollte. Er hatte sich extra vorgenommen, bis zu der betreffenden Stelle durchzulaufen; doch als er dort ankam, musste er feststellen, dass der Platz bereits belegt war: Er wusste gleich, wem die Startnummer 329 gehörte und wem er nun zu verdanken hatte, dass er sich eine neue Stelle suchen musste! Weiter wollte er nicht mehr gehen, da nun ein ca. 10km langer See folgte, der noch einmal 2h Gehzeit bedeutet hätte. Also drehte er um und suchte sich ein paar Schritte weiter hinten ein Fleckchen. All das hatte ich nur am Rande mitbekommen, weil ich ja dauernd mit meinem Schlafsack beschäftigt war. Aber nächstes Jahr lege ich mich woanders hin; versprochen, Fisse!
Bei strahlendem Sonnenschein marschierte ich über die unzähligen Seen, denen der Trail nun folgte und erreichte gegen 17h den Checkpoint am Ken Lake. Tünde und Diane kümmerten sich perfekt um uns und mit vollem Bauch saßen wir am Lagerfeuer und trockneten unser Schuhwerk. Ich fühlte mich sauwohl. Manchmal überlegte ich mir unterwegs, von wie vielen Faktoren der Erfolg dieser "Veranstaltung" abhing: Schnell wurde mir dabei klar, welch kleine Rolle ich bei dem Ganzen spielte. Ein Gedanke, der den letzten Fetzen Stolz aus mir vertrieb und mich mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Hier am Lagerfeuer in den Weiten Kanadas und nach 230km Fußmarsch war das Leben bestimmt nicht einfach, aber eines war es ganz gewiss: Unkompliziert! Nirgendwo bekam ich die Folgen meines Handelns so direkt zu spüren wie hier: Wenn ich lief kam ich zweifellos meinem Ziel näher. Wenn ich vergaß, meinen Schlafsack zuzumachen wurde es nachts kalt. So einfach war das. Ein klar definiertes Ziel, sei es auch noch so anspruchsvoll, und die grenzenlose Freiheit, die man hier spüren konnte, erzeugten in mir eine Stimmung aus Selbstbestimmtheit und Glück. Warum das so ist, das kann ich nicht begründen. Ich verspüre allerdings auch nicht das geringste Bedürfnis nach einer Begründung.
Es war schon finster, als wir uns wieder auf den Weg machten. Ich freute mich auf den "Zauberwald", der nach Ken Lake kommen sollte. Recht schnell hatte ich zu Fisse aufgeschlossen, der ein paar Minuten vor mir los gegangen war. Ich war voll in meinem Rhythmus und nutzte die schneefreie Eisfläche, um richtig Tempo zu machen. Schon bald war der See zu Ende, es ging ein paar Meter hoch ans Ufer und ab in den Wald. Obwohl wir heuer deutlich weniger Schnee hatten als im letzten Jahr war der Wald noch so, wie ich ihn in Erinnerung hatte: Dicht, weiß und völlig still. Ich hatte zwischendurch das Gefühl, dass ich richtiggehend Lärm verbreitete, mit meinen Füßen, meinen Stöcken und mit meinem Schlitten und hoffte, dass ich die Bewohner dieser Gegend nicht irgendwie störte.