Nachdem wir uns gestärkt hatten und alles wieder trocken war ging es wieder hinaus in die kalte Nacht: Um 21h brachen Fisse und ich auf, Klaus war schon eineinhalb Stunden vor uns losmarschiert. Wie im letzten Jahr ging es zunächst 5M am Highway entlang und dann rechts weg in den Busch. Der sogenannte Highway (ca. 1 Fahrzeug pro Stunde!) verläuft ab dann in ein paar hundert Metern Entfernung und man ist quasi wieder in der Wildnis. Ich traute meinen Augen nicht: Nie hätte ich gedacht, dass man von hier aus schon das ca. 50km entfernte Pelly Crossing (P.C.) sehen konnte! Ganz eindeutig, das musste P.C. sein: Ein gelblicher Haufen von Lichtern verschiedener Größe. Ich staunte, schaute wieder auf den Weg und marschierte weiter. Nur ein paar Sekunden später fuhr diese vermeintliche Siedlung in Form eines Trucks an mir vorbei. Von Pelly Crossing weit und breit keine Spur mehr. Ich war müde.
Die Waldbrände schienen hier gewaltig gewütet zu haben, denn ich erkannte die Strecke nicht wieder. Ich suchte dauernd nach der Waldschneise, die letztes Jahr für mich das Ende bedeutete. Doch ohne Wald keine Schneise und so musste ich halt früher oder später davon ausgehen, dass ich nun weiter war als beim letzten Mal. Ich kam an ein unsicher aussehendes Overflow und bevor ich noch überlegen konnte, ob es wohl wert war, die Neos (wasserdichte Überschuhe) aus der Pulka zu holen, sah ich schon eine Nachricht auf dem Eis. Ich las die liebevoll aus Ästen gebastelten Buchstaben "N E O S !" und wusste gleich, dass das nur Klaus gewesen sein konnte. Also Pulka abschnallen, auspacken, Neos an und weiter. Ich fragte mich in diesem Moment, wie viele der 30.000 Teilnehmer am Berlin-Marathon wohl bereit wären, ihren "Verfolgern" eine solche Nachricht zu hinterlassen, um ihnen das Leben zu erleichtern. Das musste der "Spirit of the North" sein, von dem die Yukon Quest-Musher immer sprachen: Keiner überholt einen anderen, der in ernsten Schwierigkeiten steckt. Und das, wo viele der Teilnehmer alles, was sie haben opfern, um einmal dabei zu sein und vielleicht sogar einen Teil des stattlichen Preisgelds zu bekommen. Wie gesagt, hier war einfach alles viel unkomplizierter.
Ich war bester Stimmung und schaffte es auch an diesem Abend wieder bis zum Half way-Marker und sogar noch ein Stück weiter. Ich hatte schon die beiden Seen überquert, die ich letztes Jahr auf dem Skidoo "absolvierte" und schön langsam kam das Gefühl auf, dass es in diesem Jahr klappen würde. Ein Gefühl, das ich schnell wieder verdrängte, denn es zählte zu den "dummen Gedanken". 16,5h Stunden nach meinem Abmarsch aus McCabe Creek begrüßten mich Shelley, Martin und Murray in P.C. Das Gefühl, hier aus eigener Kraft anzukommen und sogar noch gut drauf zu sein war unbeschreiblich. Unbeschreiblich mussten auch die Eindrücke gewesen sein, die Tobi in P.C. bekommen hatte, allerdings unbeschreiblich schlecht. Er hatte eine kleine Runde durch das Dorf gedreht und die ersten Minuten am Checkpoint sagte er zunächst gar nichts. Irgendwann meinte er dann: "Die Leute hier, die haben echt ein Problem."
Die Probleme lassen sich recht schnell in Worte fassen: Alkohol, Drogen, Entwurzelung, Sinnentleerung. Mit viel Geld wurde hier wohl eine Siedlung für die First Nations geschaffen, die damit aber wohl nicht wirklich viel anfangen können. Nachdem es keine Arbeit gibt besteht der Tagesablauf wohl in erster Linie aus der Beschaffung und dem Konsum von Alkohol, dem Fernsehen und dem Lottospielen. So fies es auch klingt, aber beim Anblick dieser Menschen kommt einem unweigerlich der Begriff Zombies in den Sinn. Ich habe in Brasilien Straßenkinder gesehen, denen ich völlig hilflos gegenüberstand, so bettelarm und verdreckt sahen sie aus. Doch sie hatten glänzende Augen und: Sie lachten! Der Blick der Einwohner von Pelly Crossing hingegen war stumpf und Gelächter wohl eher die Seltenheit. Das war also die andere Seite des kanadischen Westens. Doch ich war viel zu schwach und labil, um mir darüber Sorgen zu machen und tat daher das, was wir in Europa die meiste Zeit machten: Augen zu. Feige? Vielleicht, auf jeden Fall mit jeder Minute, die ich hier verbrachte noch ein kleines bisschen dankbarer.
Kurz vor halb fünf am Nachmittag verließ ich P.C. und machte mich auf die letzten 96km meines Weges. Ich befürchtete zwar, dass es unterwegs keinen vernünftigen Biwakplatz geben würde, denn die Strecke führte nun über 48km immer auf dem Fluss, wo es kalt, windig und ausgesetzt war. Doch ich freute mich so sehr auf Pelly Farms, den Checkpoint, von dem alle so begeistert erzählten, dass ich das gerne in Kauf nahm. Außerdem musste ich ja ohnehin eine Nacht durchmachen, wenn ich bis übermorgen um 10:30h im Ziel in P.C. zurück sein wollte. Dann lieber die erste Nacht und auf Pelly Farms ausschlafen. Guter Plan, schlechte Entscheidung! Die erste Hälfte ging noch gut vorüber, doch dann schlug die Müdigkeit voll zu. Ich setzte mich immer wieder auf meinen Schlitten und machte ein paar Minuten die Augen zu, bis es mir wieder zu kalt wurde. Außerdem stopfte ich sämtliche Snacks in meine Jackentaschen, um immer etwas zu beißen bei mir zu haben. So kämpfte ich mich meterweise über den Fluss.
Durch das Geschlängel des Pelly River verlor ich schön langsam jedes Gefühl für Zeit, Richtung und Entfernung. Nach einigen weiteren Stunden beschloss ich, dass das Ganze keinen Sinn mehr machte und versuchte eine Stelle zu finden, an der ich mich und meine Pulka vielleicht doch auf die Uferböschung hoch schleppen konnte. Nach ein paar hundert Metern gab es tatsächlich eine solche Stelle und nach 10min, während derer ich ein paar Mal fast wieder hinuntergerutscht wäre, stand ich oben. Ich parkte meinen Schlitten an einem Baum, setzte mich darauf, während ich den Baum als Rückenlehne benutzte und überlegte mir einen Plan für die folgenden Stunden.
Auf der einen Seite machte es mir zwar gerade definitiv keinen Spaß, so übermüdet und mehr oder weniger orientierungslos vor mich hinzustolpern, auf der anderen Seite wusste ich, dass eine Pause im Schlafsack nun bestimmt 8h oder länger dauern würde und diese Zeit wollte ich lieber im warmen Checkpoint der Pelly Farms verbringen als hier im Wald. Ich hatte meine Stirnlampe schon ausgeschaltet und plötzlich wurde mir die Entscheidung "Weiter oder nicht" abgenommen: Ich sah zwar nichts, hörte aber eindeutig das Stapfen eines wohl ziemlich großen Tiers. Vielleicht hätte sich das Geräusch bei genauerem Hinhören als Täuschung enttarnen lassen, doch ich war schon wieder unten am Eis, um die 10-15 restlichen Kilometer bis Pelly Farms hinter mich zu bringen.
Ca. eine Stunde später war es dann soweit: Jetzt hatten auch mich die Halluzinationen erwischt! Ich dachte, ich würde bis zum Schluss einer der wenigen bleiben, die von diversen Erscheinungen verschont blieben, aber das, was ich da am Rand des Trails ganz eindeutig sah, konnte nicht echt sein. Ich überlegte kurz, ob die Reklametafel ein paar Meter vor mir vielleicht etwas mit dem Yukon Quest zu tun haben könnte, verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder. Ich war kurz davor, mir um meinen Zustand ernsthafte Sorgen zu machen, bis sich die Situation aufklärte: Das, was ich da sah war keine Reklametafel, es war Fisses Schlitten! Und hinter dem Schlitten lag er gemütlich in seinem Schlafsack und holte nach, was er die letzte Nacht versäumt hatte. Zunächst war ich beruhigt, dass sich meine vermeintliche Halluzination aufgeklärt hatte, doch dann gab es schon wieder etwas zu überlegen: Einfach weiterlaufen und schlafen lassen, aufwecken (es war hier im Wind wirklich ekelhaft kalt) oder dazulegen, das waren die drei Optionen. Ich entschied mich für die erste, da Fisse sicher wusste, was er tat und ihm wohl auch -50°C nicht viel anhaben können.
Durch diesen Zwischenfall wieder etwas munterer, stapfte ich weiter durch die Nacht. Es war mittlerweile etwa 3:30h morgens und schon bald traute ich meinen Augen wieder nicht: "5km to CP" stand da auf einer orangefarbenen Holztafel. Ich war versucht, das Schild in die Hand zu nehmen und hineinzubeißen, um zu sehen, ob es echt war. In den alten Goldsuchergeschichten war das ja auch ein beliebtes Mittel. Doch ich konnte mich noch zurückhalten und glaubte einfach, dass der Checkpoint nun nur mehr eine Stunde entfernt war.
Doch nicht genug, schon bald gab es die nächste Prüfung: Nach einer langgestreckten Linkskurve sah ich am rechten Flussufer ein Licht; gar nicht mal so schwach, nicht flackernd und ziemlich echt wirkend. Dass es zur Farm und zu einer Halluzination keine weitere Alternative gab wusste ich; zwischen P.C. und Pelly Farms gab es nichts als eine Schotterpiste. Ich versuchte, mich nicht irritieren zu lassen und marschierte weiter. Aus dem Augenwinkel konnte ich beobachten, dass das Licht keine Anstalten machte, sich zu bewegen oder sich sonst irgendwie zu verändern.
Der Trail entfernte sich schön langsam von der linken Uferseite weg und in einem großem Rechtsbogen auf das Licht zu. Schön langsam meinte ich sogar Hütten und Zäune erkennen zu können, wollte es aber einfach nicht glauben. Doch die Beweise wurden mehr und mehr: Skidoospuren, Autowracks, Schrotthaufen: Es sah wirklich nach einer Farm aus! Ich marschierte schnellen Schrittes auf das hell erleuchtete Fenster zu und konnte sogar Menschen darin erkennen. Eine mir unbekannte Frau fuchtelte wie wild mit ihren Armen und wollte mir so zeigen, dass ich auf dem falschen Weg war. Also ging ich von der anderen Seite auf das Haus zu und war um kurz vor halb fünf am Checkpoint Pelly Farms angekommen.
Ich schnallte meine Pulka ab, nahm die wichtigsten Sachen heraus und öffnete die Türe zum unbeheizten Vorraum des Hauses; schon wurde ich begrüßt wie ein alter Bekannter, obwohl ich doch zum ersten Mal hier war und die hier ansässige Familie noch nie zuvor gesehen hatte! Obwohl es früher Morgen war, war hier mächtig was los: Bis auf den jüngsten, Ken, war die gesamte Bradley family wach und damit beschäftigt, die Läufer zu versorgen. Ich habe noch nie zuvor so eine intensive und herzliche Gastfreundschaft erlebt wie hier und es war mir schon fast peinlich, als der Vater, Dale, meine mittlerweile nun doch nicht mehr ganz frischen Socken aufhängen wollte. Ich wollte sie ihm schon wieder abnehmen, als er ziemlich bestimmt sagte: "No, that's my job. You have to sit here and eat!" Da hatte ich ja nun auch nichts dagegen einzuwenden und so setzte ich mich an den großen Esstisch und genoss heiße Schokolade sowie einen Berg von Lasagne.
Gegen halb sechs wollten dann doch einige ins Bett und obwohl man mich gewarnt hatte, dass es ab sieben, wenn der Jüngste wieder wach wurde, etwas turbulent zugehen würde, nahm ich das Feldbett im Wohn-/ Esszimmer in Beschlag. Sue, die Mutter, setzte sich derweil auf die Couch und vertiefte sich mit der Stirnlampe in ein Buch. Ich wusste nicht so ganz, wie mir geschah, aber ich fühlte mich hier sauwohl und schloss zufrieden die Augen. Doch wie angekündigt wurde es gegen morgen wieder lauter. Ich machte vorsichtig die Augen auf, als ich feststellte, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte: Es muss so gegen halb neun gewesen sein, als ich etwas Warmes auf meinem Bauch und etwas feuchtes an meiner Hand spürte, die ich aus dem Bett gestreckt hatte: Inzwischen waren auch die vierbeinigen Bewohner der Farm auf mich aufmerksam geworden und während die Katze schnurrend auf meinem Bauch saß, schleckte der Hund genüsslich meine Hand ab. Welcome to Pelly Farms! Ich bekam noch mit, wie Klaus und Steve Evans den Checkpoint verließen, dann hielt auch mich nichts mehr im Bett.
Schnell war ich wach, begrüßte den kleinen Ken und setzte mich an den Tisch. Schneller als ich reagieren konnte (mein Schlaf war nicht wirklich erholsam gewesen) stand schon heißer Kaffee vor mir und auf frische Pfannkuchen mit Ahornsirup musste ich auch nicht lange warten. Doch an ein ruhiges Frühstück war nicht zu denken, denn bald ging es zu wie im Taubenschlag: Bei meiner Ankunft hatte ich noch erzählt, dass ich ca. 10km vor Pelly Farms Fisse in seinem Schlafsack gesehen hatte. Mein Hinweis auf seinen ausgesetzten und kalten Schlafplatz hatte die Betreuer so beunruhigt, dass sie einen Skidoofahrer gebeten hatten, von P.C. aus nach ihm zu sehen. Morgens kam dann also Gary an und meinte lapidar: "Wenn ihr mir gesagt hättet, dass es um Joachim geht, wäre ich nicht losgefahren. Den haut so schnell nichts um." Wie recht er doch hatte! Um 10:30h war Fisse dann auch schon da, freudestrahlend und gut gelaunt wie immer. Er hatte wie gesagt die Nacht zuvor durchgemacht und um ca. 23h beschlossen, dass es so keinen Sinn mehr machte. Also schlief er ca. 8h, kam gerade recht zum Frühstück und genoss nun schon zum dritten Mal seinen Aufenthalt auf Pelly Farms.
Als nächster kam Tobi mit ein paar Athleten, die das Ziel schon erreicht oder das Rennen abgebrochen hatten an. Auch sie wurden nach Strich und Faden verwöhnt und der Tisch musste ausgezogen werden, um alle daran zu bekommen. Auch der Belgier Dominique saß mit an der Tafel und verschlang einen Pfannkuchen nach dem anderen. Das belgische 3er-Team, zu dem er gehörte, war in Carmacks schon zerfallen: Hier musste Yves Magnee aufgeben, ein paar km nach McCabe hatte es dann auch Fernand Marechal erwischt: Von Rückenschmerzen geplagt ging er um 90° abgewinkelt und unterhielt sich dabei eifrig mit den Bäumen am Wegesrand - Grund für Dominique, ihm die Pulka abzunehmen und mit ihm die 10M zum Checkpoint zurückzugehen. Nachdem er seinen Kompagnon dort "abgeliefert" hatte, konnte ihn nichts mehr halten und in einer wahren Aufholjagd nahm er das letzte Drittel der Strecke in Angriff.
Auf der Farm war es so gemütlich, dass mich Diane daran erinnern musste, dass ich noch nicht im Ziel war; ja, fast hätte ich den Gedanken an die letzten 48km auf der hügeligen Zufahrtsstraße erfolgreich verdrängt! Doch um 13h war es soweit: Nach fast 9h Pause am überraschend gemütlichen Ende der Welt machten Fisse und ich Abschiedsfotos und verließen die Farm. Rein rechnerisch lagen nun noch ca. 10h Gehzeit vor mir und ich glaubte, dass der Schlafmangel noch seinen Tribut fordern würde. Nach ca. 1h war ich wieder alleine unterwegs und zog meinen Schlitten pausenlos die Straße entlang. Die einzigen Unterbrechungen waren die kurzen Abschnitte, die eine mehr oder weniger rasante Abfahrt auf dem Schlitten zuließen. Ob diese Aktionen jetzt zulässig sind oder nicht, darüber mag man sich streiten: Bei dem Schlitten handelt es sich zwar gem. gängiger Regeln um ein "technisches Hilfsmittel", das aber vom Veranstalter ausdrücklich vorgeschrieben ist. Im Übrigen handelt es sich bei den Abfahrten um so etwas wie "Gewohnheitsrecht", weil es einfach jeder machte. Ganz abgesehen davon darf ich nicht behaupten, dass die kurzen Stücke irgendwie eine Erholung gebracht hätten. Auf meinem (übrigens ziemlich schlecht laufenden) Schlitten zu sitzen, die Beine nach vorne gestreckt und wie wild mit den Stöcken lenkend, um nicht alle 10m im Tiefschnee zu landen, war vielleicht eine Abwechslung, aber bestimmt keine großartige Entlastung. Ich war froh als es wieder nur gemäßigt auf und ab ging und sich die Entscheidung "soll ich oder soll ich nicht" von selbst erübrigte.
Tief in meinem Trott und voller Vertrauen, dass auch die letzten Kilometer irgendwie vorbeigehen würde (oder ich an ihnen) sah ich nach ca. 4h ein Auto auf mich zukommen. Den Insassen erklärte ich bereitwillig und möglichst entspannt wirkend, was ich hier tat, bat sie noch, etwas vorsichtig zu fahren, da jeden Moment Fisse auf seinem Schlitten um die Kurve kommen könnte und ließ mich mal wieder auf einen dummen Gedanken bringen: "You're almost there!" teilte mir der Fahrer noch mit und ein letztes Mal glaubte ich, den Half way-Marker übersehen zu haben. Nach viereinviertel Stunden hatte ich ihn wirklich vor mir und versuchte ab da den gleichen Trick, der mir beim letzten UTMB eingefallen war: "Tom, genieß es!! Ein Jahr wirst Du diese Gegend nun nicht mehr sehen. Mach' die Augen auf, setze ein Lächeln auf deine Lippen und lass die negativen Gedanken sein." Was soll ich sagen, es funktionierte: Und, es war die Wahrheit; ich war nicht hier, um zu kämpfen und zu leiden. Ich war hier, weil ich es wollte, weil es mir Spaß machte und weil ich mich hier gut fühlte - verdammt gut!
Ich genoss also den Sonnenuntergang und die Blicke auf den Pelly River hinunter, wo ich meine Spuren aus der letzten Nacht sehen konnte. Ich machte ein paar Bilder mit Selbstauslöser und versuchte, mir Reaktionen auf meinen "Erfolg", den ich nun schon sicher glaubte, vorzustellen. Doch die Ungeduld war nicht weg zu diskutieren: Stets versuchte ich, den Lichtschein zu erkennen, den ja sogar P.C. erzeugen musste. Die Distanzen und die Topographie der Gegend ließen keinen Zweifel zu: Da vorne musste P.C. sein. Doch wo ich einen gelblichen Schimmer erwartete, lag nichts als finstere Nacht vor mir. Irgendwann kam mir ein Auto entgegen und Robert stieg aus. Einem Läufer, der noch auf Pelly Farms war, ging es wohl nicht gut und Robert war losgefahren, um nach ihm zu sehen und ihn ggf. abzuholen. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, mir die Entfernung ins Ziel zu sagen - das wollte ich in diesem Moment definitiv nicht wissen - freute mich aber, ihn zu sehen. "Du hast es bald geschafft", meinte er und düste weiter in die Nacht.
Endlich erreichte ich doch die ersten Häuser von P.C., sah zwei, drei Autos und hörte Hundegebell. Nun war mir einigermaßen klar, warum man P.C. nicht leuchten sah: Zu verstreut und teilweise verdeckt im Wald lagen die Häuser und Laternen, sodass man sie eigentlich erst dann sah, wenn man direkt vor ihnen stand. Dreimal bin ich nun schon im Rahmen des UTMB nachts durch Champex Lac gelaufen, und immer glaubte ich hier meine Vorstellung einer Geisterstadt in Realität vor mir zu sehen. Doch P.C. machte einen so gottverlassenen Eindruck, dass ich einen Läufer gut verstehe, der beim Anblick dieser trostlosen Siedlung der festen Überzeugung war, wieder Opfer von Halluzinationen geworden zu sein. Seine Reaktion in diesem Augenblick war überragend rational - doch im Nachhinein betrachtet hat sie etwas kafkaeskes: Aus Angst, in diesem äußerst bedenklichen Zustand einen gravierenden Fehler zu machen, biwakierte er in einem der Vorgärten und stellte am nächsten Morgen fest, dass seine vermeintlichen Halluzinationen Realität waren und ihm nur mehr ein paar hundert Meter ins Ziel gefehlt haben. Wie heißt es in "Papillon", dem fantastischen Film über französische Strafgefangene auf der Teufelsinsel so schön: "Mit dem Verstand geschehen hier die merkwürdigsten Dinge."
Ich blieb Gott sei dank auch auf den letzten Metern von solchen Erscheinungen verschont und fand den Weg trotz der erneut spärlichen Markierung ins Ziel. Dort angekommen war meine Reaktion so, wie ich sie erwartet bzw. befürchtet hatte: Ich wusste vorher schon, dass ich mich wahrscheinlich nicht freuen könnte, dass mir kein Stein von Herzen fiel, dass ich keine unendliche Erleichterung verspüren könnte. Ein Traum, an den ich über Monate so fest geglaubt hatte war in Erfüllung gegangen und hatte damit seinen Zauber verloren. In der Vorstellung, diese Reise zu unternehmen steckte für mich soviel Magie, Energie und Hoffnung - das alles war nun Schall und Rauch, die Realität hatte mich wieder und, was das Schlimmste war: Ich hatte mein Ziel aus den Augen verloren. Kein schönes Gefühl! So skurril es auch klingt, aber je länger und intensiver meine Läufe werden, desto mehr fürchte ich mich vor den Zieleinläufen. Mehr als je zuvor bin ich der festen Überzeugung: Ich laufe, um zu laufen; nicht, um anzukommen.
Ich freute mich, als Tobi auftauchte und auch Klaus wieder so weit war, dass wir uns gegenseitig gratulieren konnten. Nach etwa einer halben Stunde war ich mich dann auch wieder etwas gelöster, zog mich um und machte mich ans Essen. Als das Thema Bier ins Gespräch kam, wusste ich auch gleich, dass das nun der richtige Augenblick war: Über sechs Jahre (seit Sylvester 1999-2000) hatte ich keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr zu mir genommen. Nicht, dass ich mich dazu zwingen musste, ich wollte schlicht und ergreifend nicht mehr. Doch jetzt wollte ich! Ich versuchte noch, Martin und den anderen zu erklären, welch historischer Moment nun bevorstand und welche Ehre es eigentlich für sie war, nun dabei zu sein (schließlich hatten mir im Laufe der sechs Jahre genügend Leute gesagt, dass sie unbedingt dabei sein wollten, wenn ich zum ersten Mal wieder etwas trank!), aber keiner verstand mich so richtig. Die Engländer und Iren, die anwesend waren, verstanden ja noch nicht einmal, dass ich so lange nichts mehr getrunken hatte - und das ganz ohne triftigen Grund! Ich wartete noch auf Fisse, dann wurde angestoßen und nach zwei Bier war ich reif für den Schlafsack. Ein Versuch, zu Hause anzurufen scheiterte am nötigen Kleingeld und so legte ich mich genüsslich hin.
Der nächste Morgen bestand in erster Linie aus Essen und Packen und als wir gegen 9h zu Dave in den Van stiegen, begann auch für mich schön langsam der Triumph: Ich erinnere mich nicht daran, je eine Autofahrt so genossen zu haben wie die folgenden drei Stunden auf dem Klondike Highway. Während die anderen hinten komatös schliefen, genoss ich jeden einzelnen Kilometer, unterhielt mich mit Dave und lauschte der Musik von Great Big Sea und Tri-Continental, die mir wie für diesen Augenblick gemacht schien. Wir fuhren und fuhren und fuhren, und mit jeder Meile, mit jedem Blick aus dem Fenster und mit jeder Sekunde wurde ich mir mehr und mehr zweier Gefühle bewusst: Der Dankbarkeit, hier sein zu dürfen und des bedingungslosen Wunsches, wieder hierher zurück zu kommen. So wie im letzten Jahr.