In der letzten Woche vor den Schulferien muss ich an tausend Dinge denken. Das gehört zum Abschluss des „Geschäftsjahrs“ dazu. Trotzdem blitzt zwischendurch Gedanke 1001 auf; es ist auch nicht schwierig, immer wieder daran zu denken.
Nachdem ich am Graubünden Marathon festgestellt habe, dass ich läuferisch wieder auf Touren und in den gewünschten Wohlfühlbereich komme, ist das bevorstehende Wochenende erst recht ein Grund zu großer Vorfreude. Die Wetterfrösche geben mit ihren Vorhersagen nochmals eine Schippe drauf.
Wenige Minuten nach offiziellem Arbeitsschluss eile ich mit Sack und Pack zum Bahnhof. Auf der Fahrt nach Zermatt habe ich endlich Zeit, das Mittagessen und eine Siesta nachzuholen. Optimale Vorbereitung auf einen Ultra sieht besser aus, was mich aber nicht im Geringsten kratzt. Hauptsache, ich bin gesund und darf in Zermatt an den Start. Wenn dazu die Wettermänner und –frauen zu ihrem Wort stehen, dann bin ich jetzt schon auf Wolke sieben.
Am Bahnhof werde ich vom Chefredakteur abgeholt und eine der traditionell für die Veranstaltung angereisten Luzerner Guggenmusik drückt auf dem Bahnhofplatz wie zu meiner Begrüßung voll auf die Tube und die Tuba. Mir geht es gut. Weil ich erst spät anreise, hat Klaus meine Startunterlagen in St. Niklaus abgeholt und mit dem Gutschein an der Startnummer gibt es im Festzelt nebenan leckere Pasta, die ich mir nicht entgehen lasse, auch wenn das Mittagessen noch nicht lange zurückliegt. Viel mehr Aktivitäten habe ich nicht geplant, ich will morgen ausgeruht an den Start.
Ich werte es als gutes Zeichen, dass ich schon wach bin, bevor der Tag anbricht. Ein Kribbeln im Bauch ist da wie bei meinen ersten Marathons. Die Zeit bis zum Frühstück überbrücke ich mit einem Morgenspaziergang, zusammen mit vielen Japanern, welche nicht die Aufregung vor dem Marathon, sondern der Jetlag aus dem Bett getrieben hat.
Die Fahrt mit dem Extrazug nach St. Niklaus gibt einen Eindruck der ersten Streckenhälfte. Das tiefste Tal der Schweiz liegt noch über weite Strecken im Schatten; auch dort, wo es für den Durst einen ersten Lichtblick geben wird. Bei Mattsand sind die Helfer dabei, die erste Verpflegungsstelle aufzubauen.
In St. Niklaus herrscht Ferienstimmung mit einer Prise Anspannung und einem Hauch Wintergrün. Läuferinnen und Läufer mit Betreuern und Begleitern haben sich Sitzgelegenheiten gesucht oder stehen herum, cool und locker oder angespannt und nervös. Rundherum wird fotografiert und der Kontrast zu den vergangenen trüben, nassen und kalten Monaten eingefangen, als müsste dieser Anblick uns wieder ein weiteres Jahr durchtragen.
Nicht einfangen möchte ich einen Sonnenbrand und verpasse mir einen hochalpinen Sonnenschutz (wasserbeständig, Faktor 50). Jetzt muss ich nur noch schnell den Kleiderbeutel und die Wertsachen abgeben, dann kann es losgehen. Mit den Wertsachen liefere ich auch gleich meine Uhr ab. Ich will gegen nichts und niemanden laufen, ich will diesen Tag in vollen Zügen genießen, aufsaugen und speichern.
Fünf Minuten nach den Eliteläufern erhalten wir um 08.40 Uhr die Starterlaubnis. „The Legend“, seit Nepal mit dichtem, weißem Bart, wuselt sich noch etwas nach vorne. Im hinteren Teil des Feldes mache ich mich über die Startlinie und versuche auf der gleich ansteigenden Straße mein Wohlfühltempo zu finden. In St. Niklaus ist noch Stadtmarathon-Stimmung, dann werden ekstatische Ausbrüche unser Ding, nicht das der Zuschauer. Anlass dazu gibt es laufend mehr. Die Ekstase hat bei manch einem allerdings zu früh eingesetzt und dazu geführt, dass er sich falsch eingereiht oder zu schnell losgelegt hat und erst noch nicht bemerkt, dass er den Weg versperrt. Mich kümmert das glücklicherweise nicht groß und ich würde mir davon die Laune nicht verderben lassen.
Noch vor dem ersten Verpflegungsposten rollt auf dem Bahngleis nebenan die rollende Tribüne an, ein Extrazug mit VIPs, Fotografen und Supportern, darunter das Chefgespann. Ich bin zwar ihr einziger Reporter auf der Strecke, Druck verspüre ich aber keinen. Wenn ich heute gute Bilder von der Strecke bringe, dann wird der Bericht Beigemüse. Und wenn die Kamera mitspielt, dann wird es bei solchem Wetter und dieser Kulisse keine Schwierigkeiten geben.
Damit es körperlich keine Schwierigkeiten gibt, nehme ich mir Zeit und greife bei den Verpflegungstischen in Mattsand zu. Die Sonne und die Höhenluft wird dem Körper zusätzliche Flüssigkeit entziehen, da empfiehlt es sich, bereits bei der ersten Möglichkeit an einer guten Hydrierung zu arbeiten.
Ich bin so beschäftigt, die Berglandschaft aus dem Talgrund heraus aufzusaugen, dass ich kaum merke, wie Kilometerschild um Kilometerschild einander folgen. Vor Randa, auf der anderen Seite der Vispa, liegt der eindrückliche Schuttkegel der Bergstürze von 1991. Ein dicker Staubteppich lag damals über dem Tal, unsere nächsten Etappenorte waren abgeschnitten. Das bisschen Staub, das wir aufwirbeln, ist dagegen nur schmückende Patina an den Beinen. Die ersten der bis zu hausgroßen Felsbrocken werden mittlerweile wieder von Bäumen überragt und tragen zu einem Bild der Wildheit bei, wie man es in einem Bergtal erwartet. An das Bedrohliche der Alpenwelt, mit welchem die Bergbewohner leben, mag man bei diesem Wetter gar nicht denken.
Eingangs Randa wechselt der Bodenbelag. Für sechs Kilometer gibt es Asphalt unter die Sohlen, dafür auch an zwei Verpflegungsposten Flüssigkeits- und Energielieferanten fürs Innenleben, kühles Wasser für die Karosserie und von den Guggenmusiken eines auf die Ohren. Da geht auch beim Stopp kein Schwung verloren. Zusätzlich sind in den beiden Dörfern Randa und Täsch auch genügend Leute da, die einen allenfalls daran erinnern, dass das Dabeisein allein nicht alles ist. Das Ziel zu erreichen gehört schon auch dazu – und dafür gibt es eine zeitliche Vorgabe. Ohne davor Angst haben zu müssen, kann ich meines Weges ziehen.
Im Lawinenschutztunnel nach Täsch bekommt das berühmte Licht am Ende des Tunnels eine neue Qualität. Wir laufen nach dem Heraustreten aus dem Untergrund nicht nur wieder im gleißenden Licht, auch der Charakter der Strecke und die Beschaffenheit des Untergrunds wechseln kurz danach in einer Trailläuferherzen entzückenden Weise. Nicht alle kommen damit gleich gut zurecht und ich werde in Ermangelung von Überholmöglichkeiten zeitweise etwas ausgebremst. Ich trage es mit Fassung, ich bin ja nicht auf der Flucht; zudem erlaubt es mir, die Augen nicht nur in voller Konzentration auf den Boden zu richten. Ich warte auf den Augenblick, in welchem nach einer weiteren Biegung erstmals der Berg der Berge ins Blickfeld rückt und von da an für den Rest des Tages nur noch mit wenigen Ausnahmen präsent ist.
Auf dem Fußweg geht es hinunter nach Zermatt, wo nach dem Überqueren der Bahngleise die nächste Verpflegung gereicht wird. Gut gemacht, denn so kann man neu erfrischt durch das Ortszentrum Spalier laufen ohne bei seinem Fanclub einen angezählten Eindruck zu hinterlassen. Ich habe zwar nie einen mit, doch mit all den bekannten Gesichtern im Läuferfeld, denen ich heute schon begegnet bin, habe ich ein bisschen Familie dabei. Ganz zu schweigen von den motivierenden positiven Kommentaren zu unseren Laufportalen, die ich heute schon entgegennehmen durfte.
Die Schlaufe am Dorfende in Richtung Zmutt habe ich auch schon mal als Pflicht bezeichnet. Heute kommt es mir anders vor, auch wenn mir die dortige Uhr bei der kurzen Begegnungsstrecke zu verstehen gibt, dass ich früher schneller war. Warum kamen mir die Kilometer damals denn länger vor?
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