Nachdem ich bereits am Vortag beim ZugspitzArenaLauf in Ehrwald teilnehme, gehe ich sozusagen als „Höhepunkt“ auch beim ZugspitzExtremBerglauf an den Start. Ich war schon zweimal dabei, bei der Premiere und bei der zweiten Veranstaltung. Seinerzeit ging es vom Olympiastadion durch das Reintal zum SonnAlpin. Die zweite Veranstaltung war durch eine Kaltfront beeinträchtigt, so dass als Ziel der Osterfelder Kopf (mit Neuschnee) herhalten musste.
In diesem Jahr schaut es nicht viel besser aus. Der Wetterbericht sagt anhaltenden und starken Regen voraus. Im Laufe des späten Wettkampftages soll dann die Schneefallgrenze deutlich unter 3000 Meter sinken.
Seit einigen Jahren ist Ehrwald (A) Startpunkt des Berglaufes. Die Streckenführung ist nun zu Beginn anders. So geht es von Ehrwald hoch zur Ehrwalder Alm und Hochfeldernalm, weiter zum Brand, dem Gatterl (Grenzübergang nach Deuschland) und zur Knorrhütte. Von dort ist der Weg wie bekannt zum SonnAlpin und zum Zugspitzgipfel. Der war bisher nicht immer zu erreichen. Meist verhinderte Schlechtwetter oder Schnee den Gipfelsturm.
Gegen 08.30 Uhr begebe ich mich in den Startbereich am Martinsplatz. Die Boxen für den Kleidertransport stehen schon bereit. Es regnet wie am Vortag. Mit rund 13 Grad ist es für einen Wettkampf richtig temperiert. Aber wie wird es am Berg ausschauen? Ehrwald liegt auf 1000 Meter Seehöhe und das Ziel liegt fast 2000 Höhenmeter über uns. In der Schule lernte man, dass alle 170 Höhenmeter die Temperatur fast ein Grad niedriger ist. Die aktuellen Teilnehmerinformationen ermahnen, wärmere Bekleidung mitzunehmen, da es im oberen Streckenteil nur mehr 3 Grad haben soll.
Dieses beherzige ich und habe demzufolge oben zwei Schichten angezogen sowie eine lange Laufhose und einen Kopfschutz. So ausgestattet fühle ich mich der Sache gewachsen, mir macht lediglich der vorhergesagte starke Niederschlag Kopfzerbrechen. Dieses relativiert sich wieder, als ich zahlreiche Läufer in kurzer Laufhose, mit Radlerhosen und kurzen T-Shirts sowie vereinzelt auch mit Trägershirts sehe.
Punkt neun Uhr werden wir dann auf die Strecke gelassen. Gut 600 Läufer setzen sich in Bewegung. Die Beteiligung war schon besser. Den Extremberglauf machen, so wie ich beobachte, sehr viele Wiederholungstäter. Also auf geht’s zum Sturm auf Deutschlands höchsten Berg.
Bis zum Gipfel (2944 Meter) sind es 16,1 Kilometer bei 2100 Höhenmeter. Beim (Ersatz-)Ziel SonnAlpin (2580 Meter) sind es „nur“ 14,7 Kilometer mit 1730 Höhenmetern, also auch eine harte Sache, wenn man die Relation zwischen Streckenlänge und Höhenunterschied betrachtet. Ich fühle mich der Sache gewachsen, ich habe in den vergangenen Wochen den LGT-Alpin-Marathon sowie den Zermatt Marathon mit etwa genauso vielen Höhenmetern problemlos hinter mich gebracht.
Nach dem Startschuss dauert es noch ein paar Sekunden, die ich zum Überlaufen der Startlinie sowie für zwei Bilder brauche. Ja, heute habe ich das gleiche Problem mit der Kamera wie gestern: Die Feuchtigkeit!
Ehrwald verlassen wir nach wenigen Minuten auf asphaltierten Untergrund. Dann zerreisst ein Donner das Getrappel der Läufer. Einen Blitz habe ich zwar nicht gesehen, aber wo ein Donnerschlag zu hören ist, da muss doch ein Einschlag gewesen sein. „Das fängt schon gut an,“ denke ich.
Der Weg wird schmaler, wir laufen an der Talstation der Ehrwalder Almbahn vorbei. Ein Schild besagt, dass es noch 14,7 Kilometer sind. Wir tauchen in den Wald ein, die Steigung nimmt zu. Ich merke, meine Oberschenkel maulen, „hoppala, gestern haben wir einen zarten Tempolauf hingelegt, nicht schon wieder auf Zug laufen.“ Ich nehme das Tempo leicht zurück.
Es gibt leider nicht viel zu sehen, die Bewölkung und immer noch der Regen, das drückt auf mein Gemüt. Es geht zum Teil in Serpentinen hoch. Teile der Strecke können gelaufen werden, die übelsten Steigungen muss ich gehen und kann auch einige Läufer überholen. Mitunter sehen wir die Seile der Bergbahn oder hören das Murmeln eines Baches. Die erste Verpflegung wartet an der Ehrwalder Alm (1502 Meter). Rund 5 Kilometer und 500 Höhenmeter haben wir schon geschafft. Ein paar Zuschauer feuern uns an.
Ich schnappe mir Wasser und Iso und laufe weiter. Der Wald endet, es geht durch Almwiesen. Manchmal schaut uns das tirolerische Rindvieh interessiert zu. Je nach Steilheit unseres Weges können wir laufen oder müssen marschieren. Ich halte es wie meine Läufer vor mir. Wenn die Mehrzahl marschiert, dann tue ich es ihnen gleich. Ja, und beim Langsam-Auffi-Lauf ist es analog.
Bis zur Hochfeldernalm (1732 Meter) führt der Fahrweg. Dort dürfen wir abermals verpflegen. Noch 9,5 Kilometer. Jetzt wird’s lustig, denn gleich oberhalb der Alm artet der Wettkampf mehr oder minder auf dem folgenden Singletrail in eine Schlammschlacht aus. Manchmal würde man sich Spikes wünschen. „Meine Tochter hätte hier Freude“, höre ich einen Läufer reden. Es wird zunehmend schwierig, langsamere Läufer zu überholen. Es funktioniert aber, wenn der schnellere Hintermann dem Vorderen zuruft.
Aufgrund der Bewölkung ist natürlich die Sicht eingeschränkt. Teilweise sieht man keine 100 Meter weit. Solange ich Vorderleute sehe, fühle ich mich sicher. Wie wird es sein, wenn sich das Feld noch weiter aus einander ziehen wird?
Am Brandjoch (2110 Meter) gibt es abermals etwas zu trinken. Und einen Stau, da dahinter eine Rutschbahn aus Dreck und Lehm mittels eines angebrachten Seiles überwunden werden muss. Den Bergwachtlern für die Hilfestellung vielen Dank. Da wäre schon die erste Schlüsselstelle des Rennens!
Später können wir immer wieder ein paar Meter laufen. Der Untergrund ist dann sicher, wenn er aus Geröll besteht. Es geht dann wieder einen Aufschwung mit kurzer Stahlseilsicherung hoch. Das Gatterl, die Landesgrenze Österreich – Deutschland. Passenderweise hält ein Wanderer uns das Gatter auf. Warum ist denn hier ein Zaun aufgestellt? Noch 6,2 Kilometer.
Es geht wieder abwärts. Äusserste Konzentration ist nötig, denn ein Sturz kann das Aus bedeuten. Der ganze Weg zur Knorrhütte verbirgt Stolperstellen. Ich bleibe kurz stehen und versuche die Knorrhütte zu orten. Aha, dort drüben ist sie, aber noch rund zehn Minuten entfernt.
Nach weiterem Auf und Ab erreichen wir die Knorrhütte (2051 Meter) schließlich. „Es geht ganz nach oben“, ruft uns ein Helfer zu. Ein Schluck Iso und einen Riegel nehme ich als Verpflegung und weiter. Es ist jetzt schon kalt geworden. Die Hände sind gerade noch lauwarm. Handschuhe wären jetzt in Anbetracht des leichten Regens nützlich. Ich winde mein Kopftuch aus und sage vorher einem Beobachter: „Schau her, das ist Angstschweiß“, worauf der lacht. Noch 4,3 Kilometer.
Nach der Knorrhütte geht es gewaltig zur Sache. Sausteil geht es Richtung SonnAlpin. An Laufen ist es jetzt nicht mehr zu denken. Ich bin ja zufrieden, wenn ich meinen Marschschritt einhalten kann und wenn keine Verschnaufpause folgt. Auch einige Wanderer haben sich bei diesem Sauwetter auf den Weg gemacht.
Die Steilheit lässt dann nach, erste Altschneefelder tauchen auf. Diese müssen wir überqueren. Ein Läufer sitzt erschöpft auf dem Boden und erhebt sich erst auf Aufforderung wieder und trottet voran.
Dann passiert ein Wetterumschwung innerhalb weniger Minuten. Erst nimmt der Regen zu, der Wind frischt fast zur Sturmstärke auf. Ich nehme aus meiner Rückentasche einen Plastikumhang und habe Mühe, diesen anzuziehen. So kann ich wenigstens den auf mich einwirkenden Windchillfaktor etwas entschärfen. Nach wenigen Augenblicken fängt es zu graupeln und zu schneien an. Bullshit, jetzt wird es eng für diejenigen, die nur kurze Sachen anhaben. Ich versuche, mich an einem Vordermann dranzuhängen, was nur schlecht gelingt, denn der Wind ist böig und unsere Laufstrecke nicht geradlinig.
Wo ist das SonnAlpin? Bei den Bedingungen ist mir der Zugspitzgipfel egal geworden. Nur mehr heraus aus dieser kalten Öde. Der Schnee bleibt mittlerweile liegen. Die Temperatur bewegt sich wohl um die Null-Grad-Grenze herum. Ich sehe einen Läufer am Boden liegen, eingewickelt in eine Alu-Decke, ein Bergwachtler leistet Hilfe. Ich möchte helfen, kann aber nicht, da ich selbst kämpfen muss.
Vor mir sehe ich das SonnAlpin nach zwei weiteren Aufschwüngen. Noch mal letzte Anstrengung, die Füße sind mittlerweile eiskalt geworden, die Hände ebenfalls, dann überlauf ich die Zeitmessmatten. In einer Garage schnappe ich mir schnell einen Riegel und ein Getränk. Dann laufe ich eilig in das SonnAlpin, wo mir jemand sogar noch die Tür aufhält. Das ist jetzt a...knapp gewesen. Was ist aus den Läufern, die gerade kurz vor der Sperrung des Gipfels noch durchgeschlüpft sind? Die sind dann wohl noch rund 45 Minuten dieser Horrorwitterung ausgesetzt. Ich mag daran gar nicht denken.
Vor dem Kassenhäuschen, wo sich die Läufer für 5,50 EUR einen Fahrschein für die Gipfelbahn kaufen müssen, steht eine zitternde und bibbernde Läufermenge. Es dauert wohl 15 Minuten, bis ich meinen Fahrschein in den Händen halte. Die Treppe laufe ich hoch und werde in einen Konferenzraum gewiesen, wo schon zahlreiche unterkühlte Läufer versorgt werden. Die Helfer bewältigen diese Krise sehr routiniert. Es werden Wannen mit warmen Wasser für die Füße herangeschleppt. Es gibt heißen Tee und warme Brötchen. Auch unterstützen schon erholte Teilnehmer die gerade Eintreffenden. Das läuft sehr organisiert ab.
Wiederholt erkundigt sich ein Mediziner, ob jemand noch medizinische Hilfe benötigt. Nach etwa 30 Minuten bin ich aus dem kollektiven Frieren heraus und sehe, dass immer weitere Teilnehmer mit Tragen herangeschleppt werden. Zum Teil werden Infusionen angelegt. Auch Hubschrauberlärm ist zu hören.
Nach einer gewissen Zeit erhalten wir die Information, dass unsere Wechselkleidung nun doch nicht hergebracht wird, sondern am Gipfel wartet. Wenigstens ist auch der Warteraum der Gipfelbahn geheizt.
Am Zugspitzgipfel steige ich dann aus, laufe über die schneebedeckte Terrasse und dann hinein in die Bergstation der Ehrwalder Zugspitzbahn. Dort erhalten wir die Medaille, ein Weizenbier, Red Bull und die Fahrkarte ins Tal. Nach ein paar Minuten geht es hinunter.
Erst auf meiner Heimfahrt erfahre ich von der Tragödie, die sich auf der Zugspitze abgespielt hat. Zwei Sportler sind aufgrund des Wetterumsturzes durch Auskühlung ums Leben gekommen. Einer war noch zehn Minuten vom Ziel entfernt, der andere starb oberhalb des Schneefernerhauses. Sehr viele Athleten wurden mit Unterkühlungen in Krankenhäusern eingeliefert.
Es gibt jetzt viele Fragen zu beantworten. Mir ist aufgefallen, dass doch verhältnismäßig viele Sportler zu leicht angezogen waren. Kurze Hose, kurzes Shirt in Anbetracht der Wettervorhersage ist riskant. Auch sind Läufer an den Start gegangen, die keine oder nur wenig Berglauferfahrung hatten. Das erkannte ich am Verhalten beim Gatterl, am Brandjoch sowie am Aufschwung nach der Knorrhütte, wo doch einige nicht so trittsicher waren wie sie es eigentlich sein sollten.
Vielleicht hätte man schon vor dem Start den Gipfelsturm absagen und das Ziel zum SonnAlpin verlegen müssen. Im Vorjahr wurde dafür der Veranstalter mit Regressen überhäuft, so dass er jetzt einem immensen Druck ausgesetzt wurde. Vielleicht kann man in Zukunft es so einrichten, dass die überwachende Bergwacht das letzte Wort hat. Auch ist zu prüfen, ob nicht eine Ausweichstrecke bei unsicherer Witterung belaufen werden kann.
Zu guter Letzt ist wohl jeder Einzelne zu ermahnen: Ein Berglauf ist keine Spielwiese für jedermann. Die Witterung kann jederzeit ohne Vorwarnung umschlagen und dann ist es nicht wie bei einem Straßenlauf, wo man am Rand auf Helfer, Zuschauer oder den Besenwagen wartet. Hitze im Wettkampf kann man managen, Kälte dagegen nicht.
Mir ist klar, dass hinterher es alle besser wissen. Die Entscheidung, sich so einer extremen Belastung zu stellen, muss jeder Teilnehmer für sich selbst treffen. Auch die Verantwortung, bei einem Wetterumschwung auszusteigen oder das Risiko einzugehen, bei einer Fortsetzung eventuell auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, liegt beim Teilnehmer. Die Strecke ist einfach zu schön - dieses Ereignis darf nicht als Begründung für ein Ende des Zugspitzlaufes dienen.
Meine Gedanken sind bei den Familien und Angehörigen der zwei verstorbenen Läufer.
Informationen: Zugspitz-Extremberglauf