Die nächsten 630 auf 6 km verteilten Höhenmeter hinauf zum Scharnitzjoch liegen vor uns. Anders als auf dem Weg zum Feldernjöchl ist unser fernes Ziel zunächst noch dem Blick verborgen. Auf einer Forststraße geht es eingangs recht bequem durch das Nadelgehölz, ehe sich der Weg über einen wurzeligen Pfad weiter empor windet. Erneut fordert dies die volle Konzentration und Kraft. Vor allem Letztere merke ich zunehmend schwinden.
Die Wangalm (1.755 m üNN) bei km 46,6 markiert die Halbzeit des Aufstiegs und gleichzeitig den Wiedereintritt in hochalpine Regionen. Die hier friedlich grasenden Kühe lassen sich durch die zwischen ihnen dahin tröpfelnden Läufer nicht im mindesten beeindrucken. Nun ja: Die Dynamik, die wir beim Ansteig verströmen, passt auch ganz gut zur Lethargie der Wiederkäuer.
Ich merke, wie mir die Luft ausgeht und immer wieder muss ich innehalten. Zumindest habe ich so Gelegenheit mich mehr auf das alpine Panorama einzulassen. Und das ist einmal mehr wundervoll: Oberhalb der schroffen Felswände türmen sich fast schon bedrohlich dunkle Wolken. Geröllhalden und Schneefelder ruhen auch hier im Übergang vom Fels zum sattgrünen, teils in Terrassen gefalteten Bodenflor. Große Findlinge erinnern daran, dass hier einst Gletscher entlang zogen. Die immer wieder kräftig durchbrechende Nachmittagssonne intensiviert die Farben und Kontraste und macht die Szenerie noch eindrücklicher. Langsam ziehe ich durch diese urtümliche Landschaft und lasse mich von einem nach dem anderen Läufer überholen.
Als ich nach einer finalen Geröllpassage um 17:45 Uhr bei km 48 km schließlich den Grat des Scharnitzjochs (2048 m üNN) erreiche, bin ich fix und fertig. Lauffreund Bernie erwartet mich bereits mit aufmunternden Worten, doch hier muss ich ihn dann endgültig ziehen lassen. Ich gönne mir eine längere Pause und gerade in der Nachschau sind es die Pausen an solch exponierten Stellen, die am eindrücklichsten in Erinnerung bleiben und das Bild dieses Trails prägen.
Auch jenseits des Jochs setzt sich die grandiose Bergszenerie fort. Den von hier ins Tal führenden Pfad kann ich bis zu dem Punkt verfolgen, wo er sich in der Einsamkeit des Horizonts verliert. 960 Höhenmeter abwärts stehen auf den nächsten 8 km an. Der Teil des Weges, den ich von oben überblicken kann, wirkt dabei gar nicht so dramatisch. Dass es dieser Weg aber in sich hat, darf ich schnell feststellen, als ich mich endlich zum Weiterlaufen aufraffe. Es ist gar nicht mal das Gefälle und auch nicht der holprig-steinige Untergrund, aber die immer wieder zu kreuzenden Schneefelder und durch überlaufende Bergbäche geschaffenen matschtriefenden Sumpfpassagen erlauben nur ein vorsichtiges Trippeln. Nach einer gefühlten kleinen Ewigkeit läuft das Tal in weiten, weichen Wiesen aus. Unvermittelt taucht der Pfad in dichtes Walddickicht und stürzt sich nun förmlich in die Tiefe.
So plötzlich, wie ich in den Wald geraten bin, so plötzlich bin ich bei km 56 wieder draußen. Und vor meinen Augen erscheint der von mir schon sehnlichst erwartete Versorgungspunkt am Hubertushof Reindlau (1.085 m üNN). Mit seinen diversen Zelten und Pavillons ist er der größte seiner Art. Und bevor man hier an den Futtertrog gelassen wird, muss man sich erst den gestrengen Augen eines Arztes stellen, der jeden Ankömmling in einem eigenen Durchlaufzelt abpasst. Aber dann ist der Weg frei: Suppiges scharfes Chili con Carne steht auf dem Speiseplan, nicht wirklich ein Genuss, aber doch das Richtige. Ein Hochgenuss sind dafür die kühlen, süßen Wassermelonen. Mit Käse, Salami, Tomaten, Brot und Kuchen runde ich mein persönliches Menü ab. Eigentlich hatte ich ja gehofft, mich in einen der Klappliegestühle flezen zu können, die im Vorjahr so gut angekommen waren. Aber leider stehen heuer nur profane Biertischgarnituren bereit. Wer Wechselkleidung am Start abgegeben hat, der kann sie sich hier abholen. Und wer gar keine Lust mehr auf Weiterlaufen hat, für den steht ein Shuttle zum Ziel bereit. Beides ist für mich kein Thema, auch wenn mir meine Beine sagen, dass sie eigentlich heute schon genug ertragen haben.
Der fortgeschrittene Tag ist deutlich zu spüren, als ich mich um 19:45, gerade einmal 1,5 Stunden vor dem Zeitlimit, wieder der Einsamkeit des Langstreckenläufers aussetze. Motivierend ist immerhin, dass die noch anstehenden 2.000 Höhenmeter auf den verbleibenden 44 km zunächst einmal auf sich warten lassen. Denn unser Kurs folgt nun fast bretteben dem Radweg entlang der Leutascher Ache, die durch das breite gleichnamige Tal rauscht. Wer in den Bergen entspannt richtig laufen will, der hat nun dazu die Gelegenheit. Vorausgesetzt er ist dazu noch in der Lage. Und das ist bei mir nur bedingt der Fall.
Kaum 2 km begleiten wir die Ache, dann entfernt sich der Weg vom Wasser und führt am Waldesrand mit Blick über endlos weite Wiesen weiter. Gänzlich ungewohnt müssen wir schließlich gar ein Stück einer (geringfügig) autobefahrenen Asphaltstraße folgen, ehe wir bei km 62 den Zugang zum Erlebnispark der Leutascher Geisterklamm passieren und oberhalb der Klamm trailgerecht wieder auf einem Naturweg durch den Wald weiterlaufen dürfen. Ein einfaches Schild informiert über den sonst unmerklichen Übergang zurück auf deutschen Boden. Über den Baumkronen sehe ich im letzten Sonnenlicht die sich senkrecht auftürmenden, schroffen Felswände der Nördlichen Karwendelkette erstrahlen. Sie zeigen, dass ich im Moment dem Karwendel- näher als dem Wettersteingebirge bin. Für Klettersteigfreunde auch hier eine Empfehlung: Den „Mittenwalder Höhenweg“, der in luftiger Höhe mit herrlichem 360 Grad-Panoramablick über den Gipfelgrat der Nördlichen Karwendelkette führt.
Bei km 65 passiere ich den Ortseingang Mittenwalds, berühmt als das Dorf der Geigenbauer. Tiefere Einblicke in das hübsche Bergstädtchen bleiben uns allerdings verwehrt. Mehr Interesse weckt im Moment aber ohnehin die kleine, hier zusätzlich eingerichtete Versorgungsstation, an der ich mit Cappuccino und Gummibärchen verwöhnt das letzte Tageslicht am Straßenrand sitzend genieße.