War es eben, um 21:30 am Tag der Sonnenwende, noch irgendwie Tag, so umgibt mich, von der Versorgungsstation auf einen Waldpfad abzweigend, auf einmal tiefe Dunkelheit. An der Stirnlampe komme ich nicht vorbei, will ich nicht jäh von einer Wurzel zu Boden gerissen werden.
Auf unserem Weg gen Westen, zurück in den Schoß des Wettersteingebirges, gewinnen wir schnell wieder an Höhe. Dennoch: Frisch gestärkt fällt das Laufen in der nächtlichen Kühle leichter. Reflektierende Wegweiserpfeile und zahlreiche in den Zweigen hängende Trassierbandfetzen sowie Kreidezeichen auf Steinen, alles in orange, lassen mich auch in der Dunkelheit problemlos den Weg finden, was gerade jetzt wichtig ist, ist man doch mangels anderer Orientierungspunkte voll auf die Markierung angewiesen und hat, vor allem im unübersichtlichen Gelände, zudem ständig den Wunsch, durch ein neues Zeichen die Sicherheit zu bekommen, auf dem rechten Weg zu sein. Und diese Sicherheit zu vermitteln ist dem Veranstalter auf der gesamten Strecke bestens gelungen.
Ein paar Kilometer weiter öffnet sich der Wald. Über mir wölbt sich der klare Nachthimmel, schemenhaft lassen sich Felswände ausmachen, vor mir erstreckt sich eine im Nachtlicht matt glitzernde weite Fläche. Der Ferchensee ist erreicht und selbst in der Nacht kann ich mir gut vorstellen, wie malerisch die Lage dieses Sees sein muss. Dem am Ufer entlang führenden Weg folgen wir einer markanten Lichtquelle am Horizont entgegen.
Die Insel des Lichts bei km 70 entpuppt sich als lauschiger Versorgungspunkt, der zusätzlich durch die Reste eines gewaltigen Sonnwendfeuers beleuchtet und erwärmt wird. Sehr angenehm ist das, denn kühl und feucht ist die Luft geworden. Der heiße Zitronentee, den mir die wie immer gut gelaunten, zuvorkommenden Helfer mixen, ist da gerade das Rechte.
Leicht, aber beständig bergan führen uns die nächsten Kilometer entlang des sogenannten Bannholzerweges, einem breiten Forstweg, der wenig abwechslungsreich zumeist schnurgerade durch den Wald führt. Für Kilometer bin ich hier mutterseelenallein unterwegs. Es mag so gen Mitternacht gehen, als mir ein Lichtlein am Wegesrand entgegen scheint und ein freundlicher Gruß hinüber schallt. Selbst hier, in der größten Einsamkeit, ist einer der vielen Bergwachtposten eingerichtet. Zu zweit oder dritt schlagen sie sich zu unserem Schutz die Nacht um die Ohren. Am Tag sind mir diese Posten gar nicht so aufgefallen, jetzt in der Nacht aber umso mehr. Mit kleinem Lagerfeuer und Schlafsäcken trotzen sie der Kälte und sind dennoch allesamt gut aufgelegt. Ich bin beeindruckt.
Etwa ab km 77 endet abrupt die Eintönigkeit der bequemen Forststraße. Und mutiert zum schieren Gegenteil: Einem überaus ausgesetzten Pfad, der sich hindernisreich 400 Höhenmeter in die Tiefe stürzt. Kälbersteig nennt sich der verwegene Pfad, der hinab bis zum Eingang der Partnachklamm führt. Der Weg ist so verwinkelt und bisweilen kaum als solcher erkennbar, dass ich permanent auf der Suche nach Markiererungen bin, dabei aber stets darauf achten muss, nicht in einem der zahllosen krakengleichen Wurzeltentakeln hängen zu bleiben. Aus der Tiefe rückt der fast bedrohliche Klang des durch die Klamm tosenden Wassers immer näher. Ein spannender Weg, gerade jetzt in der Nacht. Dennoch bin ich etwas erleichtert, als ich durch die Bäume eine Lichtquelle ausmache, die der Verpflegungsstation am Eingang zur Klamm bei km 79,5 zuzuordnen ist.
Einsam ist es mittlerweile, um 1:20 Uhr, nicht nur auf der Strecke, sondern auch an der Station. Nur selten trudeln vereinzelte Läufer ein und verschwinden alsbald wieder in der Dunkelheit. Ich hetze mich nicht, weiß ich doch, dass das jetzt die Ruhe vor dem Sturm - dem finalen Gipfelsturm - ist.
Gerade einmal auf 810 m üNN sind wir an der Verpflegungsstation. Und erschöpft, wie wir sind, sollen wir jetzt nochmals rauf bis auf über 2.000 m üNN, bis zur Bergstation der Alpspitzbahn am Osterfelderkopf.
Diese Vorstellung schreckt mich dennoch gar nicht mal so sehr, fühle ich mich in der Kühle der Nacht zusehends besser. Also: Frisch ans Werk. Ein gut ausgebauter Treppensteig bringt mich erneut nach oben an den Rand der Partnachklamm, deren Verlauf wir ein Stück folgen, um sie dann über eine Brücke zu queren. Gerne hätte ich hier einen optischen Eindruck von der Klamm gewonnen, aber aus dem undurchdringlichen Schwarz der Tiefe dröhnt wie aus einem Höllenschlund nur der Klang des brodelnden Wassers empor.
Die nächsten Kilometer sind überraschend bequem und der Anstieg moderat. Ich folge einem gut ausgebauten Höhenweg durch das Reintal. Erst beim “noch 15 km”-Schild weist mich der Wegweiser an, diesen Weg zu verlassen und auf einen unscheinbaren Pfad zu wechseln. Und der hat es in sich: Steinig, wurzelig, matschig, zugewachsen durchkurvt er verschlungen die dschungelartige Natur. Mit zunehmendem Verlauf wird er immer ausgesetzter und steiler. Über Baumstämme, um und über große Felsen müssen wir klettern, Wurzelberge und meterhohe Stufen überwinden. Schier endlos zieht er sich im Zickzack den Abhang hinauf. Wann immer ich ein fernes Lichtlein durch die Bäume blitzen sehe, denke ich: Jetzt hast du es gleich geschafft. Aber dann ist es doch nur ein weiterer versprengter Marschierer, den es mir gar gelingt zu überholen, oder ein einsamer Bergwachtposten. Wie eine Ewigkeit ziehen sich die angeblich nur 3 km dieses Pfades - er nimmt und nimmt kein Ende.