Ich höre schon die ersten Vöglein zwitschern und sehe den ersten Hauch von Helligkeit am östlichen Horizont, als ich endlich bei km 88 den Versorgungsposten an der Talstation Längenfelder (1.610 m üNN) betrete. Hier herrscht vergleichweise mehr Trubel, soweit man davon überhaupt sprechen kann. Denn eine Besonderheit dieses Postens ist, dass er doppelt angelaufen wird. Zunächst von so armen Würstchen wie mir, die sich mühsam aus der Partnachklamm empor geschleppt haben, sodann von den Sportiven, die von hier aus bereits den 6 km-Rundtrip mit Abstecher zur Bergstation der Alpspitzbahn am Osterfelderkopf in 2.029 m Höhe bewältigt haben und auf dem Rückweg von selbigem erneut einkehren dürfen. Hier endlich sind auch die vermissten Klappstühle aufgestellt, leider alle besetzt von in Decken gehüllten, verschlafen dreinblickenden Mitläufern. Vielleicht ist es aber auch ganz gut so, dass kein Platz frei ist. Wer weiß, wie ich sonst wieder in die Gänge gekommen wäre. So lasse ich mir eine Portion Nudeln auf der Bierbank schmecken, packe mein Ränzlein und stelle mich dieser letzten Hochgebirgsrunde.
4:30 Uhr ist es. Relativ schnell verdrängt das erste Tageslicht die Schatten der Nacht und vermittelt erste konkrete Eindrücke von unserer Umgebung. Und die erwecken in mir das Gefühl, in einer Steinwüste zu sein. Bis über 2.600 m ragt vor uns düster das Alpspitzmassiv auf. Weite Geröllfelder bedecken die Flanken. Fels und Schutt dominieren auch die nähere Umgebung und selbst der breite, gut ausgebaute Fahrweg, den wir erklimmen, passt sich dem an. Mächtige Metallpfosten und Betonkonstruktionen erinnern daran, dass wir uns in einem Skigebiet befinden, das schneebedeckt weitaus lieblicher wirken mag. Unser Weg führt näher an die Abhänge der Alpspitzwand heran. Ein kalter Wind umweht uns, auch wenn der Himmel einen wolkenlosen Morgen verheißt. Erneut stellt sich ein gewisses “Alaska”-Feeling ein. Unser Laufkurs schwenkt vor dem Alpspitzmassiv langsam in die Gegenrichtung ab und gar nicht fern sehen wir schon unser letztes Gipfelziel, die Bergstation der Alpspitzbahn bei km 91, thronen. Weiter auf dem gut zu belaufenden Untergrund ist diese schnell erreicht.
Das ging ja richtig locker, denke ich nur. Und stelle mir vor, dass ich wohl genauso locker wieder zum Ausgangspunkt an der Verpflegungsstelle komme. Gekrönt wird meine Ankunft am Osterfelderkopf durch die just in diesem Moment über den Berggipfeln am Horizont als roter Ball aufgehende Sonne. Welch eine dramatische Inszenierung! So wird man eben als langsamer Genussläufer belohnt.
Richtig beschwingt mache ich mich an den Abstieg. Und muss schnell erkennen: Schluss ist es mit der Gemütlichkeit. Teils dramatisch schwingt sich der Trampelpfad in die Tiefe. Fels und Matsch machen es erforderlich, sich auf jeden Schritt zu konzentrieren, zumal bisweilen nicht unbeträchtliche Absturzgefahr besteht. So manche Stelle ist seilgesichert. Ich denke mir nur: Haben die Nachtläufer überhaupt eine Vorstellung, was ihnen hier blühen kann? Selbst tagsüber ist der Trail ausgesprochen anspruchsvoll. Nicht nur einmal kann ich einen Sturz durch Ausrutschen gerade noch verhindern. Über ein letztes Schneefeld hinüber müssen wir noch, dann entspannt sich die Situation. Der Pfad schlängelt sich im Auf und Ab durch den Wald und will einfach nicht enden.
Schon 6:30 Uhr ist es, als ich zum Versorgungsposten an der Talstation Längenfelder zurück kehre. Wie anders ist das Bild jetzt im hellen Tageslicht. Alles ist schon aufgeräumt,.keine Klappstühle mehr, Aufbruchstimmung herrscht, auch wenn es weiterhin zu essen und zu trinken gibt. Aber jene heimelige Gemütlichkeit wie bei meinem ersten Ankommen, die ist fort.
Nur noch 6 km bis zum Ziel liegen vor mir, wobei auf den ersten 4 km 900 weitere Höhenmeter abwärts zu überwinden sind. Schon diese Zahlen sagen mir: das wird heftig. Durch den immer dichter werdenden Wald windet sich der Pfad über Stock und Stein dahin. Und einmal mehr merke ich: Bergablaufen ist nicht meine Sache. Während ich vorsichtig dahin tapere und mir jeden Tritt genau überlege, sausen andere im Galopp an mir vorbei. Und so kommt es, dass auch dieses Teilstück für mich kein Ende nehmen will.
Endlich, bei km 97,5 trete ich in Hammersbach hinaus aus dem Wald, hinein in die nun schon kräftig brennende Sonne und nehme die letzten flachen Kilometer gen Grainau in Angriff.
Noch morgendlich ruhig ist es im Ort, kaum ein Mensch ist auf der Straße. Und nicht viel mehr los ist auch, als ich gegen 7:35 Uhr durch den Zielkanal hinein in den Musikpavillon laufe. Der Zielsprecher gibt sich redlich Mühe, für ein wenig Stimmung zu sorgen und begrüßt lautstark jeden der Ankömmlinge persönlich. Freundlich lächelnde Gesichter verteilen Medaillen und Finisher-Shirts als Insignien an die, die die Laufprüfung erfolgreich bestanden haben. Es ist auch ohne großen Auflauf ein herzliches Finale und ich kann allzu gut verstehen, dass die Masse der Ankömmlinge nicht stundenlang ausharrt, bis auch die Nachzügler den Weg ins Ziel gefunden haben. 299 Finisher beim Ultra-Trail, das ist die Bilanz dieses Jahres. Etwas weniger als im letzten Jahr sind es, dafür hat der Super-Trail mit 275 Einläufern zugelegt.
Sieger ist mit sage und schreibe 45 Minuten Vorsprung auf den Nächstplatzierten der Franzose Julien Chorier in kaum glaublichen 11:55 Std. Mehr als doppelt so lange habe ich gebraucht. Aber wer hier ernsthaft auf Zeit läuft, der erlebt vieles nur an der Oberfläche, der verzichtet auf die Intensität vieler Eindrücke, vor allem die der grandiosen Naturlandschaft, deren Stille und Erhabenheit, oder aber auch so etwas wie die wohlige Gemütlichkeit der Versorgungsstationen. Das sind die Dinge, die man letztlich nicht vergisst.
Beinhaft - und wunderbar. Zwischen diesen Polen bewegt sich der Lauf. Und dank rundum ausgezeichneter Organisation darf der, der sich auf diesen Trail einlässt, sich auf ein unvergessliches Erlebnis freuen.