Und wieder nutze ich jede Pause, um auf verschiedenen Wetterportalen die Vorhersagen nach unterschiedlichen Prognosemodellen zu beobachten. Ein verregneter Marathon im Regen ist kein Unglück, ein solcher in den Bergen (wie eben in Liechtenstein) keine Katastrophe: Ebenso ist ein Ultralauf in alpinem Gelände im Regen zwar kein Weltuntergang aber eine wenig wünschenswerte Darreichungsform.
Nicht nur der gebannte Blick auf das zu erwartende Wetter zeigt deutlich, dass der bevorstehende Zugspitz Ultratrail doch ein anderes Kaliber ist als die üblichen Wochenendläufe. Schon am Sonntag spüre ich auf der Laufrunde mit den Hunden ein Zwicken im Wadenansatz, für welches keiner meiner Begleiter verantwortlich ist. In der Folge bleiben die Laufschuhe im Stall. Und auch sonst spüre ich verschiedene Zipperlein; da ein Ziehen, dort ein Stechen und was sonst noch alles die Bereitschaft für eine läuferische Riesenanstrengung in Frage stellen kann.
Der Pfingstferienende-, Sommerferienbeginn-, Fronleichnam- und Brückentag- Hin- und Rückreiseverkehr verzögert meine lang ersehnte Ankunft im Zugspitzdorf Grainau. Die Startunterlagen werden mir flink ausgehändigt und mein knurrender Magen freut sich, dass ich mich mit der Teilnehmerkarte schon bald für einen Teller Pasta, eine Schale mit knackigem Salat und ein Getränk anstellen kann, was mich aber nicht daran hindert, das Antrittsgeschenk genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Trinkrucksack des Titelsponsors ist prall gefüllt mit Werbematerial und einem Accessoire für Leute wie mich: Ein durch Knicken zu aktivierender Leuchtstab, den alle diejenigen an ihrem Rucksack befestigen müssen, welche nicht vor dem Einnachten ins Ziel kommen. Dazu gehöre ich mit Sicherheit.
Der Musikpavillon ist gerammelt voll. Alle lauschen dem ausführlichen Briefing, welches jegliche für die Sicherheit relevanten Themen ausführlich abdeckt. „Fast schon amerikanisch“, denke ich mir, doch in Anbetracht, dass nicht alle Teilnehmer wie ich mit Alpengenen und damit mit ordentlichem Respekt vor alpinen Verhältnissen ausgestattet sind, ist das durchaus nachvollziehbar.
Die Reihen lichten sich erstaunlich schnell. Legen sich schon alle ins Körbchen oder machen sie dort Party, wo es die anderen Sportler nicht so mitbekommen?
Der Nachtsprint um 22.00 findet ohne meine Zuschauerunterstützung statt. Wortfetzen des Kommentators dieses Auftaktrennens begleiten mich beim Einschlafen. Das ist aber nicht der Grund für die mäßige Schlafqualität in dieser Nacht. Ich stehe dazu: Auch wenn man es mir nicht ansieht – ich bin aufgeregt.
Obwohl ich in der Morgendämmerung aufstehe, geht es mit der Zeit gerade auf. Eigentlich ist der Rucksack seit Tagen gepackt, trotzdem übe ich mich in größter Umständlichkeit, um das Eine oder Andere noch anzupassen.
Der Zugang zur Startaufstellung führt an der Ausrüstungskontrolle vorbei. Mit Stichproben wird überprüft, ob die vorgeschriebene umfangreiche Ausrüstung mitgeführt wird.
Im Starterfeld entdecke ich eine große Anzahl Bekannter. Wären wir Vielflieger, würden wir zum exklusiven Kreis der Platinum-Members gehören. Unsere Lounges sind die Trails, das Iso unser Sekt.
Über den „Highway to Hell“, der auch hier kurz vor dem Start angespielt wird, habe ich mich in meinem Bericht zum Marathon in Würzburg geäußert. Doch hier hat das Lied insofern seine Berechtigung, dass schon bald nach dem neutralisierten Start und dem kurzen Weg von Grainau nach Hammersbach der Pfad in Richtung Höllentalklamm führt. Dabei verursachen wir auf einem Waldstück ein halbes Inferno, indem wir die friedlich weidenden Kühe in ihrer Morgenruhe erschrecken und sie in alle Richtungen stieben. Leider nicht nur sich von uns abwendend…
Die ersten zehn Kilometer bis zum Eibsee führen auf gut zu belaufenden Pfaden und Wegen durch den Wald. Die Gruppe, die vor dem Verpflegungsposten lautstark anfeuert, wird uns noch mehrmals an diesem Tag und der folgenden Nacht begegnen.
Bevor ein Blick auf den Eibsee zu erhaschen ist, werden erst Höhenmeter gebunkert. Bei Sonnenschein muss der Anblick dieses Sees ohne oberirdischen Abfluss mit seinem klaren, grünlichen Wasser und seinen kleinen Inseln besonders eindrücklich sein. Doch der Himmel ist bedeckt, dafür haben wir ideales Laufwetter. Es ist trocken, die Temperatur nach meinem Geschmack gerade recht.
Der Roaming-Klingelton in der Hüfttasche signalisiert, dass in dem lauschigen Wald die Grenze zu Österreich überquert ist und damit auch schon fast ein Fünftel der Höhenmeter geschafft sind. Am besten feiert man das mit ein wenig Erholung, Essen und Trinken. Haben sich wohl die Kurssetzer gedacht und einen Abstieg zur Talstation der Tiroler Zugspitzbahn ein- und dort einen Verpflegungsstand aufgebaut. Ich orte Bananen, Nüsse, Riegel, Orangenschnitze, Brotstücke mit Käse und Salami, Iso und Wasser, vielleicht gibt es auch noch andere Sachen, für mich ist das aber mehr als ausreichend.
Weiter geht es auf breiten grünen Bändern, auf welchen sich, wenn sie weiß sind, die Touristen und Einheimischen auf ein oder zwei Brettern tummeln. Aufwärts ist das Laufen im Gras leichter, abwärts stelle ich mir vor, wie rasant man unter Ausnutzung der gesamten Pistenbreite mit den Carvingskis runterkurven könnte. Aber schon bald sind wir wieder dort, wo man sich mit den Skis nicht gerne wiederfindet: in unmittelbarer Nähe zu den Bäumen. In diesem Waldstück wird nach einem Fünftel der Strecke mit einer unübersehbaren Warntafel eine Temporeduktion ans Herz gelegt und ein Überholverbot ausgesprochen. Für mich ist keiner dieser beiden Hinweise von Relevanz, denn dazu bin ich zu langsam unterwegs. Das Zwicken in der Wade am vergangenen Sonntag war nicht nur Einbildung. Es zieht auch heute und ich muss aufpassen, dass ich nicht noch mehr in eine Schon- oder Vermeidungshaltung gerate, denn die Auswirkung spüre ich bereits im Oberschenkel. Leicht gedrosselt nehme ich den fast fünf Kilometer langen Abstieg in Angriff.