Mit dem Erreichen des Hubertushofs in Reindlau liegen noch 45km und 2000Hm vor uns. Mit dem guten Gefühl, schon ein Stück mehr als die Hälfte geschafft zu haben, können wir uns Zeit zum Verweilen an diesem Verpflegungsposten lassen. Medizinische Betreuung brauchen wir nicht, doch die Klappliegestühle sind willkommen. Von den Wechselkleidern, die ich mir hierher habe bringen lassen, brauche ich nichts. Dafür wünsche ich mir, dass an dieser Stelle die Verpflegung ein wenig üppiger ausfällt. Salziges liegt nicht bereit - aber als Bückware gibt es Cola. Zum Glück, denn mittlerweile habe ich in jeder Beziehung genug von Iso. Am Sekt wird auch nur genippt… Mein Körper wünscht etwas Herzhaftes.
Gemeinsam machen wir uns wieder auf und finden, dass die Aufzählung der Infrastruktur des Hotels an seiner Fassade ziemlich gemein sei. Hallenbad, Sauna, Dampfbad, Whirlpool… Nein, jetzt nicht. Jetzt kommt zuerst eine fünf Kilometer lange, leicht wellige Forststraße entlang der Leutascher Ache, welcher wir bis zur Geisterklamm folgen. Auf diesem Fast-Flachstück müssen wir uns gegenseitig immer wieder für den Laufschritt motivieren, die Strecke zieht sich. Schub gibt uns die Truppe der Unermüdlichen, die mittlerweile hier auf ihren Schützling wartet und alle anderen genauso frenetisch anfeuert.
Wir erhalten einen schönen Blick auf den Ausgang der Klamm, streifen Mittenwald am Rand und nehmen mit einer weiteren Steigung die letzten 35 Kilometer in Angriff. Ein angenehm zu belaufender Wanderweg im Wald führt uns weiter. Alles würde passen, wenn nur nicht die Zunge so unangenehm am Gaumen kleben würde. Wasser löst das Problem nicht, Iso mag ich nicht mehr schmecken und weit und breit ist kein Gasthaus in Sicht. Bei allen Vorteilen, die das Laufen draußen in der Natur bietet, die erschwerte Erreichbarkeit solcher Notstationen ist ein eindeutiger Nachteil. Unsere Rettung ist die Bergwacht. Die drei netten Herren erbarmen sich unser und leisten uns Erste Hilfe in Form einer Flasche Mittenwalder Bier. Andrea, Peter und ich lassen die Flasche kreisen und sind überzeugt, dass uns kaum jemals ein Schluck Bier so gemundet hat.
„Wo sind all die Stunden geblieben?“, frage ich mich in der Abendstimmung entlang des Ferchensees. Es ist das seltsame Gefühl, das ich von Langstreckenflügen kenne. Die vergangenen Stunden und der vergangene Tag sind irgendwie nicht fassbar. Eine zeitlose Zeit liegt hinter mir. Während des Laufens hat sich die Welt weiter gedreht und ich habe es nicht bemerkt. Und dieses Empfinden wird, wie nach jeder durchwachten Nacht, noch ausgeprägter sein, wenn der Morgen anbricht.
Ich freue mich auf den nächsten Verpflegungsposten. Die feste Nahrung entspricht meinen Wünschen und Gelüsten, die Getränkesituation ist ein mentaler Tiefschlag. Die restliche Cola, die überhaupt noch erfragt werden kann, wird in homöopathischen Mengen rationiert an die enttäuschten Läufer abgegeben.
So, wie ein Motor stockt, wenn er mit schlechter Treibstoffqualität zurechtkommen sollte, habe ich Mühe, wieder richtig in Gang zu kommen, doch die Gesellschaft von Andrea und Peter muntert mich auf.
Die vorgesehene Route wurde nicht bewilligt, weshalb auf eine breite Forststraße ausgewichen werden muss, was mich aber nicht stört. Vielmehr versuche ich mir vorzustellen, wie es weitergeht, wenn es dunkel ist, denn schon beim Schild, welches die letzten 30 Kilometer bezeichnet, ist das Hereinbrechen der Nacht spürbar und die Lichtverhältnisse zum Fotografieren kaum mehr ausreichend. Fünf Kilometer später gelingt mir das letzte akzeptable Bild und bald darauf geht es auch nicht mehr ohne Stirnlampe.
Der steile Abstieg zur nächsten Verpflegungsstation ist zu herausfordernd, als dass wir länger warten könnten. In der Hoffnung, dass Reporterkollege Bernie auf dem Supertrail die Kilometer von hier bis ins Ziel dokumentieren konnte, stecke ich die Kamera in den Rucksack und nehme dafür die Stöcke heraus, um welche ich schon sehr bald sehr froh bin. Beim Zusammenstecken zeigen sie sich aber sehr widerspenstig und erst Peters Griff zur Vaselinedose hilft mir, das Teil in die gewünschte Form zu bringen. Bis es so weit ist, warten meine beiden Begleiter ganz geduldig.
Der Verpflegungsposten im Tal unten ist bestens ausgestattet. Hier hatte man die Möglichkeit die Cola-Bestände nochmals aufzustocken und auch sonst ist alles reichlich vorhanden. Körper und Geist sind für das Schlussbouquet wieder im Schuss. Dieses besteht aus nochmals 1400 Hm Aufstieg – und Abstieg. Was davon wird schwieriger werden?
Die Partnachklamm kann ich im Licht der Stirnlampe nur erspähen. Was ich dabei sehe sagt mir, dass es für mich vermutlich einfacher ist, diesen schmalen Steg über der tiefen Schlucht im Dunkeln zu überqueren.
Jetzt, in der Nacht und mit der angestauten Müdigkeit sehen ich Tiere, Gnome und Weltraumroboter. Einmal sind es Pfützen auf dem Weg, ein anderes Mal Wurzeln, Steine oder Gebüsche; die Figuren aus dem Weltall sind Läufer mit unzähligen Applikationen von Leuchtstreifen auf ihren Kleidern, welche im Gegensatz zum Rest der Textilien das Licht der Stirnlampe reflektieren. Losgelöst von den Konturen der Körper täuschen sie dem Auge etwas vor.
Die Schönheit des Waldes kann ich nur erahnen. Obwohl ich es mir nicht leisten könnte, den Lichtkegel von Weg wegzunehmen, lasse ich ihn immer wieder links und rechts schweifen und versuche einen Eindruck der Umgebung zu erhaschen. Ansonsten sind nur fließendes Wasser hör- und Glühwürmchen sichtbar.
Zu diesem Zeitpunkt kann ich nicht sagen, wie weit es zum nächsten Fixpunkt, der Verpflegungsstelle und Ausgangspunkt zur Schlaufe mit dem allerletzten Anstieg, überhaupt noch ist. Einerseits scheint der Zickzack nicht zu enden, andererseits steht plötzlich eine Tafel vor uns und kündigt den Verpflegungsposten in 500m an. Die große Hoffnung auf Cola zerschlägt sich umgehend, doch der freundliche Helfer bietet mir aus seinem privaten Fundus einen Becher Karamalz an, für den ich mich an dieser Stelle nochmals ganz herzlich bedanke. Überhaupt: Allen, die in irgendeiner Form an der Strecke ihren Dienst versehen haben, gebührt ein großes Dankeschön. Ich weiß nicht, ob ich es an ihrer Stelle schaffen würde, wachzubleiben. Und die Lagerfeuer oder liebevoll am Wegrand aufgestellten Teelichter und Partykerzen verbreiten in der Nacht eine besonders gemütliche Atmosphäre, die mein Wohlbefinden hebt.
Olli ist von der Schlaufe zum Osterfeldkopf zurück und empfiehlt die Jacke anzuziehen. Ich beneide ihn ehrlich gesagt, dass er schon den Schlussteil in Angriff nehmen kann, denn inzwischen ist der Nieselregen sehr konstant. Der Vierbeiner in mir ist gestern und heute fast so fit wie ich – aber ich bin der Chef. Also geht es mit Andrea und Peter los zum vermeintlich letzten Brocken dieses Ultratrails. Hoch geht es den Umständen entsprechend einfach. Der Wirtschaftsweg – Schotterpiste ist fast zutreffender – ist breit und meist angenehm ansteigend.
Der Hammer kommt dafür beim Abstieg: Die Passage mit dem Stahlseil ist noch gnädig, zumal ich mich im Dunkeln dem Anblick steil abfallender Hänge nicht aussetzen muss. Der Weg mit seinen sogar für meine Beine hohen Stufen wird immer schmieriger, rutschiger und, versauter. Nach über 90km Trail ohne Bodenkontakt übe ich mich in einer neuen bayerischen Tanzform, dem Arschplattler. Und üben heißt bekanntlich, dass man etwas immer wieder macht; na ja, solange mir dabei nichts passiert…
Die Markierung der ganzen Strecke des Ultratrails ist erster Güte. Trotz den Markierungen kommen mir aber Bedenken, ob ich als vorderster Läufer unserer Gruppe eine Abzweigung verpasst hab. Was, wenn wir nun bereits auf dem Schlussstück sind. Eigentlich kann das gar nicht sein, doch ich habe die Orientierung völlig verloren und das Gefühl, der zweite Streckenteil dieser Schlaufe sei jetzt schon mindestens zweimal so lang wie der erste. Am dritten Kontrollposten seit der Verpflegungsstelle werden mir die Bedenken genommen und tatsächlich taucht diese bald schon wieder auf. Mit guter Tomatensuppe, gut gesalzenen Cherrytomaten, Schinken und Käse rüste ich meinen Körper nochmals auf und verweile auf einem der Stühle, bis Andrea, bevor mich der Schlaf übermannt, zum Aufbruch mahnt.
Hinunter ins Tal werden wir nochmals richtig gefordert. Meinen neuen bayerischen Tanz übe ich noch mehrmals auf diesem dem winterlichen Blitzeis in nichts nachstehenden Untergrund. Durch die Bäume hindurch ist die Morgendämmerung auszumachen und in Hammerbach angekommen, kann ich die Stirnlampe ausschalten.
Zwei Kilometer vor dem Ziel kommt von hinten Max angedonnert. „Ich hab‘ noch Energie – muss noch Gas geben“, sagt er und düst davon. Mir reicht es, dass ich es bald geschafft habe und ich freue mich darauf, mit meinen beiden Begleitern bald die Ziellinie zu überqueren.
Das letze Stück lassen wir uns nicht lumpen und laufen in einem halbwegs lockeren Laufschritt zum Musikpavillon und stehen gemeinsam auf der Matte. Glücklich, zufrieden, auch ein wenig stolz und vor allem müde.
Dieser stramme Erstling hat mich gewaltig auf Trab gehalten. Die Muskeln werden sich noch ein Weilchen daran erinnern. Länger wird die sonstige Erinnerung anhalten, besonders wenn ich die Medaille an der Schreibtischlampe baumeln sehe oder wenn ich das Finisher-T-Shirt trage. Wobei ich mit einem Zwinkern sagen kann, dass dieser Ultralauf nicht ganz so stramm war, wie man aufgrund des Finisher-Shirts annehmen kann.
Das war er, der Erstling an der Zugspitze: Ein bis hin zu den heißen Duschen gut organisierter Ultratrail mit einem fairen Preis-Leistungsverhältnis, mit Natur pur, der mir vor Augen geführt hat, dass ich vor dem UTMB noch die eine oder andere Bergeinheit einbauen sollte…
ULTRATRAIL 101 km, 5474 HM - Men
1. Heras Miguel, E-SALAMANCA 10:55.19,9
2. Karrera Aranburu Iker, E-Tolosa 11:09.25,9
3. Dippacher Matthias, Oy-Mittelberg 11:14.46,5
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Steiner Daniel marathon4you 21:33.42, 6
ULTRATRAIL Women
1. Böttger Julia, Rott am Inn 14:15.08,8
2. Wermescher Ildikó, H-Budapest 15:07.29,7
3. Calmbach Andrea, Donzdorf 16:00.00,6
329 Finisher
SUPERTRAIL 68.8 km, 3120 HM - Men
1. Reiter Philipp, Bad Reichenhall 7:04.04,1
2. Philipp Anton, Weitnau 7:20.21,6
3. Stelzle Florian, Landshut 7:33.39,3
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Manhard Bernie, marathon4you 13:07.35,6
SUPERTRAIL Women
1. Zajac Kasia, Bayreuth 9:05.28,1
2. Philipp Simone, Weitnau 9:22.01,1
3. Clemen Ellen, Garmisch-Partenkirchen 9:25.56,2
236 Finisher